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Tradition und Experiment

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ESSAIS I, WERKE 2. Von T. S. Ellot. Suhrkamp-Verlag:, Frankfurt. 488 S. DM 82.—.

Thomas Stearns Eliot (sein äußerer Ruhm hatte 1948 durch die Verleihung des Nobelpreises seinen Höhepunkt erreicht) galt lange Zeit als der bedeutendste Dichter der angelsächsischen Welt. Wirkung und Ruhm reichten weit über das Abendland hinaus bis nach Ostasiien. Als Eliot Anfang Jänner 1965 im Alter von 76 Jahren starb, bestätigte die Flut von bewundernden Nachrufen nur seinen Rang. Ehrendoktor von 23 Universitäten, wider Willen Anreger zu weit mehr als 200 Interpretationen seines monumentalen Gedichtes „The Waste Land”, zu ungezählten Dissertationen und jährlich etwa vier neuen Büchern über den Dichter und Kritiker oder Dichterkritiker, war T. S. Eliot schon zu Lebzeiten ein Klassiker gewesen. Aber nur seine Bühnenwerke wirkten in die Breite und gewannen die Aufmerksamkeit des Publikums, während sei-ne Lyrik mehr zitiert, interpretiert und zerredet als gelesen wurde. Dennoch sind die Dramen bloß Nebenwerke geblieben, denn Eliot ist vor allem der Autor einer kleinen Zahl vollkommener Gedichte, merkwürdiger Schöpfungen von einer bestimmten, unverwechselbaren Eigenart.

Das eine der beiden Meisterwerke dieses „diskreten Revolutionärs” oder „avantgardistischen Traditionalisten”, wie man ihn genannt hat („Das wüste Land”), steht am Beginn, sein Spätwerk „Four Quartette” (Vier Quartette) als endgültige Synthese aller seiner Anstrengungen und Überlegungen api Ende seines Schaffens. In den letzten Jahren schien Eliot zum Monument eines Klassikers erstarrt; er war historisch geworden, und sein Einfluß, namentlich unter den jungen englischen Dichtem, begann zu schwinden. Es erhoben sich sogar Stimmen, die den Kritiker Eliot für größer hielten als den Dichter. Aber ob er den Rang eines Großen, eines „major poet”, erhalten wird, soll die Zukunft lehren.

Es ist nur zu begrüßen, daß der Suhrkamp-Verlag uns wieder einmal mahnend an Eliot erinnert und in einer erschwinglichen, mustergültigen Werbausgabe dem Band „Dramen” nun den ersten Essayband mit sorgfältig übersetzten Beiträgen, vorwiegend theoretischen Charakters, über Kultur und Religion, Bildung und Erziehung, Gesellschaft, Literatur und Kritik folgen läßt. Ein zweiter Essayband wird Eliots Arbeiten über konkretere Fragen der Literatur sowie einzelner Autoren und Werke gewidmet sein.

Die Essays (hervorgegangen aus kritischen Untersuchungen, Einleitungen, Buchbesprechungen, Vorträgen und Vorlesungen) zeigen, wie stark der pädagogische Eros in Eliot war, der jenseits eines kleinen Kreises von Kennern auch ein großes Publikum zu erreichen und zu beeinflussen hoffte. Sie gehören zu den folgenreichsten literarischen Bemühungen unserer Gegenwart, „die moderne Welt als Objekt der Kunst zu erschließen”. Ihr kritischer Stil, den sprachliche Einfachheit bis zur nüchternen, behutsam sichernden, ja pedantischen Weise kennzeichnet, ist Ausdruck einer souveränen Betrachtungsweise. Eliots Verskunst ist ohne die entscheidende Mitwirkung seines kritischen Vermögens nicht denkbar. Er hat selbst nachdrücklich auf die „bedeutsame Beziehung” hingewiesen, die immer „zwischen der besten Dichtung und der besten Kritik der gleichen Zeit besteht”. Eliot war dabei der nahezu ideale Grenzfall einer solchen Union, bei aller thematischen Entschiedenheit und Eindeutigkeit, aber auch Einseitigkeit, wie sie dem schöpferischen und ideenbildenden Geist eines Dichters eigentümlich ist.

Eliots Erneuerung und Kritik der Dichtung erwuchsen aus dem ständigen Suchen nach dem lebendigen Stil, der Intellektualität und Sinnlichkeit zu einer vollkommenen Einheit binden sollte. Aus der Grundüberzeugung, daß der Dichter wie der Künstler überhaupt nur dadurch Neues schafft, daß er mit möglichst vielem „Alten” engen Kontakt hält, versuchte Eliot die exemplarischen Ausdrucksmittel der großen Tradition in eine lebendige Gegenwarts- diichtung thematisch und formal einzuschmelzen. Zeitgenosse in jeder Faser seines Wesens war Eliot zugleich Zeitgenosse aller Zeiten. Darum erweist sich der Experimentator und Traditionalist Eliot in seinen Essays gleichzeitig auch als ein strenger Hüter der europäischen Tradition. Im Ringen um neue dichterische Ausdrucksmittel und ihre Voraussetzungen, im gleichzeitigen Vergegenwärtigen des Mannigfaltigen und Komplexen unserer Kultur griff Eliot weit über die Bereiche alles bloß Literarischen hinaus.

Der Essayband beginnt denn auch mit den umfassenden „Beiträgen zum Begriff der Kultur” (1948). Darin setzt sich der geborene Amerikaner Eliot intensiv und unbefangen mit allen in unserer heutigen Welt noch lebendigen und entfaltungsfähigen Traditionen und restlichen oder entstehenden Kulturen auseinander. Von hier aus schlägt sich ein Bogen zu dem Essay „Vergil und die christliche Welt” (1951) und der herrlichen Vergil-Rede von 1944 (Was ist ein Klassiker?), worin Eliot seine Idee des Klassischen am entschiedensten verkündet und am ausführlichsten entwickelt hat. Das Klassische ist bei ihm mehr noch eine moralische als eine ästhetische Kategorie. Es ist das vollkommene Maß und die Reife der Form, die Reife auch im Gesellschaftlichen und Politischen, die Universalität im gefühlsmäßigen und begrifflichen Denken. Eliots Urteilsfähigkeit und „Probleminstinkt” erweisen sich in seinen Essays frisch, lebendig und produktiv bis heute.

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