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„Tragische Literaturgeschichte“

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In Goethes Lehre von den „Urphänome- nen“ und in Friedrich Schlegels „Literarischen Charakteristiken“ haben wir die Keime jener gestalthaften Anschauungsweise der Lebens- und Geistesformen zu sehen, die wir heute Typologie nennen. Die urphänome- nale Gestalt, der Typus, setzt etwas Unveränderliches in der Erscheinungen Flucht und Mannigfaltigkeit voraus. Mit Hilfe der Typologie wollte Wilhelm Dilthey, der jüngere Ahnherr dieser Betrachtungsmethode, sich im Widerstreit der Weltanschauungen zurechtfinden. Sein Nachfahre Eduard Spranger wandte diese Methode glücklich auf seine verstehenspsychologische Betrachtung der Lebensformen an. Seit Dilthey ist die Typologie zu einem wesentlichen Organon der modernen Geistes- wissenschaft geworden, das — mit jeweils wechselnden Akzenten — eine Überwindung des Relativismus und Historismus im Sinne einer „Kritik der historischen Vernunft" (Dilthey) ermöglichen soll. Denn jede Typologie ist im Grunde ein Instrument der Kritik im Sinne der wesentlichen Unterscheidung. Wer im Vergleich des Vielfältigen den urphänomenalen Typus erkannt hat, der wird erst zum richtigen Verständnis der überreichen Erscheinungswelt geführt, in welcher der Typ als individuelle Ideengestalt immer wiederkehrt.

Der Name Wilhelm Dilthey wurde nicht nur für die allgemeine Geistes- und Philosophiegeschichte, sondern auch für die Literaturwissenschaft bedeutsam. Wenn er in seinem bekannten Buch „Das Erlebnis und die Dichtung“ (1905) das höchste Verständnis eines Dichters dadurch zu erreichen sucht, daß er die bestimmenden Modifikationen des Erlebens, Verstehens und Erfahrens, die die Dichtung bedingen, möglichst vollständig erfassen will, so hat er damit der psychologischen Betrachtungsweise in der Literaturwissenschaft Tür und Tor geöffnet. Die Tiefenpsychologie von Freud bis Jung — hat die psychologische Betrachtungsweise auch in der Literaturwissenschaft noch wesentlich be" reichert und vertieft.

In seiner Züricher Antrittsvorlesung, die 1930 unter dem Titel „Psychoanalyse und Literaturwissenschaft“ in Berlin erschienen ist, hat der Schweizer Literaturhistoriker Walter Muschg auf die Zusammenhänge zwischen Tiefenpsychologie und Literaturwissenschaft hingewiesen, zumal gerade die Psychoanalytiker aller Schulen sich mit dem dichterischen Kunstwerk und seinem jeweiligen Schöpfer intensiv beschäftigt haben. Dabei ist das Interesse der psychoanalytischen

Literaturforschung „auf die überindividuellen Zusammenhänge gerichtet“, das bei den Zeiträumen, die sie gleich der Mythenforschung und Urgeschichte jahrtausendweit überspannt, schon die Forderung nach einer Typologie in sich schließt, wie sie dann Carl Gustav Jung tatsächlich in seinen „Psychologischen Typen“ erstellt hat. Es ist nun unzweifelhaft richtig, daß die Tiefenpsychologie bei allen kritischen Einwänden, die gegen sie vorzubringen sind — Entpersönlichung, radikale Psychologisierung der dichterischen Phänomene, flacher Determinist mus —, auch der Literaturwissenschaft ganz neue Gebiete erschlossen und den Blick für bestimmte Phänomene geschärft hat (Symbolforschung, Deutung des Naturgefühls, tieferes Verständnis der Phantasiekräfte). „In Wahrheit ringt eben auch die Literaturwissenschaft“ — so führte Muschg in seiner Antrittsvorlesung aus — „um eine neue, eine tiefere Erkenntnis der Individualität .,. Sie möchte endlich ihre Einsicht in das Wesen des schöpferischen Individuums bis zum Letztmöglichen präzisieren, um das Letzt- unmögliche desto ehrfürchtiger auf sich beruhen zu lassen." Die „Überwindung des naiven zeitlich-räumlichen Nacheinanders in der Geschichte der Dichtung“ ist nach Muschg das geheime Ziel der psychoanalytischen Schriften zur Literatur. „Die Vergangenheit“, so sagt er in seinem Buch über Gotthelf, „ist uns kein quantitativer Begriff, sondern eine seelische Dimension.“

So wird der Kenner von Walter Muschgs Büchern über Albrecht Schaffer, Heinrich Kleist, Jeremias Gotchelf, über die Mystik in der Schweiz immer wieder bemerken, wieviel Anregungen er der Tiefenpsychologie verdankt, wie sehr sie die Methode seines Forschens bestimmt. Dabei ist Muschg weit davon entfernt, etwa psychoanalytische „Pathographien“ zu geben oder in der Terminologie der Nervenärzte zu reden. Auch sein jüngstes und vielleicht eigenwilligstes Buch, seine „Tragische Literaturgeschichte" (Verlag A. Francke AG, Bern 1948), verwertet in reichem Maße die Anregungen und Erkenntnisse, die ihm die Tiefenpsychologie geboten hat. Dabei wehrt er sich ausdrücklich dagegen, aus der Literaturgeschichte „eip Tollhaus" oder eine „Heilanstalt für Nervenkranke" zu machen. Ihm geht es vielmehr darum, aus einer vergleichenden Dichterbiographie nicht nur der deutschen, sondern der Weltliteratur die immer wiederkehrenden Typen des Dichters abzulesen und sie in ihren Spielarten durch den Lauf der Zeiten zu verfolgen. Ganz im Sinne Jungs will er die „Psychologischen Typen" des Dichterischen anschaulich machen. So gibt er „Psychographien“ der Dichtergestalten von der sagenhaften Vorzeit bis zur Gegenwart und erkennt im „Magier“, „Propheten“, „Priester" die Typen der dichterischen Berufung im mystischen, überirdischen Sinn, im „Sänger , „Poeten“ und „Bürger“ die Kulturformen des Dichters in der irdischen Welt. „Jeder dieser Typen ent. hält eine Fülle von Möglichkeiten und Abweichungen und tritt selten rein auf. Wie ln allem Leben, sind auch hier die Mischungen das Gewöhnliche und Selbstverständliche. Gerade die größten Dichtergestalten zeichnen sich dadurch aus, daß sie an mehr als einem Typus teilhaben " (S. 163). Das Schicksal all dieser Begnadeten ist aber nach Muschgs Meinung am Ende immer ein tragisches, denn der Auserwählte muß früher oder . später entweder an seiner Umwelt oder an seiner eigenen menschlichen Unzulänglichkeit scheitern. Der „Magier“ an der Hybris der Selbstvergottung, „Prophet" und „Priester“ am Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit gegenüber Gott, „Sänger", „Poet" und „Bürger“ an der wechselnden Gunst der Mitwelt und an der eigenen Eitelkeit. Der „Archetyp“ der ihnen allen zugrunde liegt, „der Vagant", erscheint in tausend Spielarten in allen, rein an den großen Zeitenwenden.

Der zweite Teil dieser „Tragischen Literaturgeschichte“ zeigt die einzelnen Typen im Kampf, in ihrer Auseinandersetzung mit ihrem inneren und äußeren Schicksal, mag es nun „Verbannung" oder seelisches oder körperliches „Leiden“ sein, oder das bedrückende Gefühl der „Schuld“. Nach Muschgs Meinung sind „Dichter nicht gut, sie können es nicht sein, sie sind es nicht in bürgerlichem, sondern in tragischem Sinne. Gut sind die Heiligen, sie überwinden das Böse und behalten den Schmerz. Die Dichter überwinden den Schmerz und behalten das Böse". Was jeder dieser Dichtertypen aus dem macht, was ihm auferlegt ist, wie er es gestaltet, darin liegt nach Muschg sein Wert und seine Größe. Hier trifft sich Muschg mit Scheler und der modernen Existenzanalyse, wenngleich mancher seiner „ethischen Zensuren“ und „Entlarvungen“ nicht immer zuzustimmen ist. Die Schlußkapitel sind der dichterischen Phantasie, der „Vollendung“ als Ziel jedes Dichters und dem „Ruhm“, der sehr fraglich gewordenen Unsterblichkeit, gewidmet. In dem Kapitel über die Phantasie wird eine psychologische Poetik grundgelegt, die sich merkwürdig mit der ontologischen Poetik Emil Staigers deckt.

Dieses außerordentliche Buch wird vielleicht viel Widerspruch ob seines pessimistischen Pantragismu9, ob mancher historischer Verzeichnung erfahren. Man wird es aber nicht ohne geistigen Gewinn aus der Hand legen, weil es in tiefer mystischer Gläubigkeit an der Dichterpersönlichkeit nicht rütteln läßt und noch weniger an dem, der den Dichter berief: an Gott.

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