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„Tretet ein, wo ein Dichter ist..

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Elio Vittorini ist ein sehr bedeutender, bei uns noch wenig bekannter italienischer Schriftsteller. Er wurde 1908 als Sohn eines Eisenbahners in Syrakus, Sizilien, geboren, in derselben Stadt also wie Sal-vatore Quasimodo, der umstrittene Nobelpreisträger des vergangenen Jahres. Vittorini hat aber mit dem neben ihm eher dürftig wirkenden Quasimodo nicht viel gemeinsam; eher ist, schon um seinen Rang anzudeuten, ein Vergleich mit Cesare Pavese am Platz. Der Piemontese, der im gleichen Jahr wie Vittorini geboren wurde und 1950 freiwillig aus dem Leben schied, war ihm in vielem ähnlich, in der Unmittelbarkeit des Welterlebens und darin, alle Phänomene des Lebens und der Literatur von der Mitte des eigenen Daseins her zu sehen. Wie Pavese, der Melville ins Italienische übertrug, hat Vittorini eine große Vorliebe für die moderne amerikanische Literatur. Er übersetzte Hemingway, Faulkner, Steinbeck, Saroyan, Caldwell, D. H. Lawrence. Und doch unterscheidet sich sein „Offenes Tagebuch“ grundlegend von dem Tagebuch Paveses, das posthum unter dem Titel „Das Handwerk des Lebens“ (deutsch bei Ciaassen) erschien. Vor allem darin, daß Paveses Tagebuch kein „offenes“ ist, sondern ein wirkliches, dem er seine intimsten Dinge, alle Heimsuchungen und Erregungen der Seele, mitteilte, sich selbst analysierend, um das Wesen des Menschen zu erkennen. Das „Offene Tagebuch“ von Vittorini dagegen ist im eigentlichen Sinne nicht Tagebuch, sondern eine Sammlung von kulturkritischen Veröffentlichungen, kleinen Nc.izen und großen Essays, die Vittorini zwischen 1929 und 1959 schrieb und die er nun, oft bis auf ein paar Kernsätze gekürzt, gesammelt herausgab. Freilich macht eine solche chronologische Aneinanderreihung von Aufzeichnungen den inneren Werdegang eines Menschen sichtbar; aber eben dcoh nur indirekt, an der Änderung der Einstellung zu gewissen Dingen, am Wechsel der Perspektive, an einer Vertiefung der Sicht.

Das „Offene Tagebuch“ gliedert sich in vier Teile: „Sohriftstellerei“, 1929 bis 1936; „Antifaschistisches“, 1937 bis 1945; „Kulturelles“, 1945 bis 1947; „Gesellschaftliches“, 1948 bis 1959, aber diese Titel erscheinen mir verkehrt, denn alle Teile sind ja nicht inhaltlich geordnet, sondern chronologisch, und zu allen Zeiten hat sich Vittorini mit Fragen der Gesellschaft, der Kultur, der Literatur, der Politik beschäftigt, wie das Leben von ihm Stellungnahmen abforderte. So beschäftigt er sich von Anfang an mit Gestalten, wie Hemingway und Faulkner und dem, was sie uns zu sagen haben, und noch im vierten Abschnitt finden sich neue, überraschende Einsichten zu ihren Werken.

Elio Vittorini ist nicht nur ein gescheiter, unabhängiger Denker, er ist in allen Ansichten auch höchst sympathisch. Seine Liebe gehört — wie Alfred Andersch in einer meisterlichen Einleitung ausführt — den Regionalisten, Autoren, die immer wieder über ein bestimmtes Stück Erde schreiben, das sie genau kennen, ohne jede symbolische Absicht — und die dadurch gerade erreichen, daß ihr Stück Erde stellvertretend steht für die ganze Welt. Faulkner, Hemingway, Hamsun, Giono sind solche Autoren. Sehr angenehm berührt auch, daß Vittorini offen zugibt, daß er mit Autoren wie Thomas Mann, die verschlüsselt schreiben, Symbole suchen und das von ihnen Erzählte sogleich auch kommentieren, nichts anzufangen versteht. Wer bei uns würde sich getrauen, öffentlich zuzugeben, daß er mit den Autoren, die die Übereinkunft der Zeitgenossen für die größten hält, nichts anzufangen versteht?

In der Zeit des Faschismus, der ja auch einen Regionalismus, aber einen ganz anderen, beschränkten, nationalen, verlogenen propagierte, beschäftigte sich Vittorini viel mit der amerikanischen Literatur, i der er Universalliteratur, Weltliteratur in einer einzigen Sprache fand. Sie hielt er in klug formulierten Aufsätzen seinen Zeitgenossen als Beispiel von echtem Regionalismus entgegen. Diese Ausführungen über amerikanische Literatur hätten nicht verstreut durch das ganze Buch gedruckt werden sollen, sondern organisch aneinandergefügt, als eigener, selbständiger Abschnitt, der gut ein Viertel des Buches gefüllt hätte. Ebenso hätten die Partien der „Autobiographie in Kriegszeiten“, die man fortlaufend lesen möchte, nahtlos zusammengefügt werden müssen. Ein letzter Einwand trifft die (offenbar nicht von Vittorini stammenden) biographischen Erläuterungen im Anhang. Sie sind sehr willkürlich gewählt. Warum fehlt William James, wenn Henry James aufgenommen wurde, warum Faulkner, wenn Thomas Wolfe vertreten ist? Auch haben sich hier einige Irrtümer eingeschlichen: Curzio Malaparte hieß ursprünglich Kurt Suckert, Ezra Pound war 1959 nicht mehr in der Nervenheilanstalt St. Elizabeths in Washington; er war bereits im April 1958 nach Italien entlassen worden. Auch wurde er nicht

„wegen Hochverrat“ abgeurteilt: eben wegen seiner, angeblichen Geisteskrankheit fand nie ein Prozeß gegen ihn statt. Schließlich erhielt 1957 nicht Thornton Wilder, sondern Albert Camus den Nobelpreis. — Aber das sind alles Einwände, die nichts mit Vittorini und dem, was er zu sagen hat, zu tun haben. Niemand möge sich durch sie abhalten lassen, diese hochinteressanten Kommentare zu wesentlichen Phänomenen der Gegenwart zu lesen.

Ein einziges Zitat soll den Rang dieses Geistes spüren lassen:

„Tretet ein, wo ein Dichter ist, der groß ist, und dann seht ihr gleich, daß das Problem eines Landes, das keine fest umrissenen Grenzen mehr hat, zu einem Problem der ganzen Welt wird. Lesen wir Hölderlin, und Deutschland wächst uns ans Herz wie unser eigenes Land“ (September 1946). Lesen wir Vittorini, und Italien wächst uns anc Herz wie unser eigenes Land. Dem Otto-Walter Verlag ist für die Herausgabe dieses wichtigen Wer kes zu danken. Wieland Schmied

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