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Über den Menschen

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„Der Mensch und seine Stellung im All.“ Von Bela von Brandenstein. 608 Seiten. Verlag Benziger, Einsiedeln-Zürich 1947

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„Der Mensch und seine Stellung im All.“ Von Bela von Brandenstein. 608 Seiten. Verlag Benziger, Einsiedeln-Zürich 1947

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Die Zeit scheint wieder einmal reif für eine neue Lehre vom Menschen. Vor 90 Jahren hat Hermann L o t z e in großzügiger Synthese den naturwissenschaftlichen Mechanismus seiner Zeit mit seiner eigenen idealistischen und theistischen Weltauffassung zu vereinen versucht: sein

„Mensch“ war doch ein „Mikrokosmus“, ein kleiner Kosmos in einem großen, sinnvoll geordneten Ganzen. Jetzt, da allerorten vom „Ende des mechanistischen Zeitalters“ gesprochen wird (siehe Kolbabeks Schrift in der „Sympo- siori“-Reihe), da die Einzelforschungen in Biologie und Abstammungslehre, Urgeschichte und Völkerkunde, Psychologie und Soziologie, Werttheorie und Ethik das Eigenartige des Menschenwesens, die Tatsächlichkeit des Geistes neu aufgewiesen haben, da aber auch alles Menschliche in der Politik, in der Philosophie, in der Lebensform der Individuen und der Massen mehr als je fraglich geworden ist, bietet diese „philosophische Anthropologie“ de.' ungarischen Denkers eine neue Synthese jener Forschungsergebnisse mit einer wieder idealistischen und thei- stischen Weltanschauung.

Hatte Lotze noch die scheinbar unversöhnlichen Gegensätze Mechanismus und Teleologie in eins zu bringen — und er brachte es in seiner Weise zustande —, so brauchte Brindenstein nun die überall schon sich durchsetzenden morphologischen und teleologischen Tendenzen der Wissenschaften einigermaßen zu vereinheitlichen und sie fügten sidi schon in sein metaphysisches System.

Ohne Voraussetzungen philosophischer Art, gewissermaßen von unten her, nimmt er seinen Ausgang von „Menschlichen Leib“, der menschlichen Entwicklungsgeschichte, weist darauf in einem Überblick über die „Menschliche Kultur“ in allen ihren Zweigen von der Technik bis zur „Sitte“ (in „Magie“ und „Religion“) das eigentümlich Menschliche auf, ohne das diese Erscheinungen nicht möglich wären; skizziert dann die Tätigkeiten der „Menschlichen Seele“ (in dem Entwurf einer aktualistisdien Psychologie); vermag nun das von allen Seiten empirisch erfaßte Wesen Mensch dem Leib und dem Geiste nach in das große metaphysische Gefüge einer Welt einzugliedern, in der die menschlidie Seele als die am feinsten differenzierte und dabei durchaus individualisierte unter den „Naturkräften" erscheint (als Mikrokosmus wiederum); und stellt am Schluß, in merkwürdig philosophischobjektiver, durchaus nicht „existentieller“ Weise diesen Menschen in seine Bezüge zu Gott (so daß selbst die Menschwerdung des Gottessohnes fast nur als Vollendung der kosmischen Ordnung gewertet wird).

Der Leser wird sidi mit einer Reihe überraschender Ideen auseinandersetzen müssen, so mit einer noch auffällig subjektivistischen Wahrnehmungslehre. die den Wahrnehmungsinhalt zum ersten Gegenstand (!) des Bewußtseins macht; ihr gegenüber aber wieder mit der schon fast sonderlidien Behauptung, daß die Farben und Töne, so wie sie uns erscheinen, auch Wirklichkeiten der Web außer uns seien. Er wird zu tun haben mit einer ganz plausibel gemachten Äthertheorie („da das N’ihts weder Wellen schlägt noch strahlt“); aber auch mit einer merkwürdig veralteten (der aristotelischen) Ansicht des Zeugungsvorganges (als der Aktualisierung des „potential im weiblichen Ei schlummernden Individuums“). Der Leser wird sich an der irreführenden Mehrdeutigkeit des Wortes „Geist“ (in den Bezeichnungen: „persönlicher Geist“, „Gemeinsdiaftsgeist“, „objektiver Geist“) stoßen; er wird aber die Idee eines meraphysi- sdien „Vollbewußtseins“ hinter dem engen empirischen Bewußtsein als Gegenhypothese zur Lehre des Unbewußt-Psychischen (bei Bergson wie bei Freud) in ihrer Unbefangenheit bewundern, vielleicht sogar zu realisieren versuchen. Er wird am Ende staunen über die Konsequenz, mit der Brandenstein seine eigene Ansicht von schaffender, geistiger Verursachung entgegenstellt der Kausalitätslehre der Physik; vor allem aber über die Erklärung der immer deutlidier sich herausstellenden Sondergesetzlichkeiten auf allen Stufen des Naturganzen: aus dem Wirken nämlich geistiger, bewußter „Naturkräfte", so daß hinter jeder Art schon des Pflanzen- und Tierreiches eigene „Artkräfte" stünden (persönliche Universalia sozusagen hinter den Dingen).

Dennoch oder vielleicht: außerdem wird der Leser fast auf jeder Seite Interessantes und Anregendes genug für sich finden. Er kann sich mit den Ideen der gegenwärtigen Forschung auf allen Gebieten der Menschenkunde (und der Biologie) in kurzen Übersichten bekanntmachen. Er wird dem Verfasser für manches Zitat, für mandie klare Zusammenstellung dankbar sein.

— Es ist ein Budi, wie es nur ein sehr belesener und sehr besonnener, geistig lebendiger und überlegener, gescheiter alter Herr schreiben konnte. Viele Bücher der Art gibt es jetzt nicht.

Der unserer Zeit wirklich entsprechenden Anthropologie freilich sehen wir noch entgegen. Es wird zuvor noch einiges auszutragen sein im wissenschaftlichen Bereich, es wi-i sich wohl auch erst das neue philosophische Begriffssystem, das fest sein soll gegen die neuen Hiebe und Stiche, ausbilden und einleben müssen.

Demokratie und Wahlrecht. Von Emmerich C z e r m a k, Minister a. D. Europa-Verlag, Wien. 48 Seiten.

Ein gründlicher Kenner der Geschichte und der Finessen des österreichischen Wahlrechtes gibt hier nach einem kurzen geschichtlichen Rückblick eine Charakteristik des geltenden österreichischen Wahlrechtes, jener mühseligen Konstruktion eines Proporzlistenwahlrechtes, das die Parteigrenzen und die Macht der Parteisekretariate versteinert und zwischen Wählerschaft und Gewählten, zwischen Volk und Gesetzgebung einen gefährlichen leeren Raum ein- sdialtet. Mit kühl-sachlicher Ironie schildert der Verfasser das geltende Wahlverfahren der streng gebundenen Liste mit seinem doppelten Ermittlungsverfahren nach der Hagenbach- Bischoffschen und ltodi der d’Hondtschen Methode. Wer nicht wüßte, daß es um die Ermittlung eines Wahlergebnisses geht, könnte beim ersten Anhören der komplizierten Rechenexempel glauben, es handle sich um die Berech nung der Laufbahn himmlischer Gestirn . Mit vollem Recht sagt der Verfasser, sobald für die zweite Republik die elementaren Lebensbedingungen gesichert sein würden, werde auch die Zeit gekommen sein, die Formen der Demokratie zu verbessern; er unterläßt es deshalb, seine kritische Darstellung des geltenden Wahlrechtes in einen Reformvorschlag münden zu lassen; er begnügt sich, als Anhang eine Änderung der niederösterreichischen Landtagswahlordnung zu paraphieren, die eine proportionale Einerwahl mit Listenkonkurrent enthalten würde; der Wähler hätte danach das Recht, eine bestimmte Person aus der Parteiliste zu wählen; die gültigen Stimmzettel wären zuerst nach den Parteilisten zu ordnen und danach die für eine Partei abgegebene Gesamtstimmenzahl festzustellen; dann erst sei von der Ortswahlbehörde zu ermitteln, wie oft auf den gültigen Stimmzetteln die Namen der einzelnen Bewerber dieser Parteiliste eingesetzt würden.

— Diese Art würde eine erstmalige umständlichere Zählung mit sidi bringen, aber vor allem dem bisherigen Willen der Wähler Spielraum lassen und die bisherigen „Ermittlungsverfahren“ beseitigen. Es ist zu wünschen, daß diese klare Darlegung dazu beitrage, cks Verlangen nadi der Reform des jetzigen ungesunden Wahlsystems nicht mehr zur Ruhe kommen zu lassen.

Ferdinand Ireiligrath — der Trompeter der Revolution. Politische Gedichte. Eingeleitet und ausgewählt von Dr. Karl G 1 a d t. H.-Bauer- Verlag, Wien. 160 Seiten.

Den besonderen Wert dieses Bändchen stellt das liebevoll entworfene Lebensbild Freiligraths dar, das der Verfasser seiner Auswahl politischer Lyrik voranstellt. Unter den Dichtern des Revolutionszeitalters zählt Freiügrath zu den ansprechendsten Erscheinungen. Ihn treibt das tiefe soziale Empfinden, die Gerechtigkeitsliebe. Parteige'sterei, politische Dogmatik und der nationalistische Überschwang sind ihm fremd und widerlich; während seiner Exilzeit in Belgien knüpft er mit Karl Marx freundsdiaft- liche Beziehungen an; in Erscheinung und der Wurzelhaftigkeit ihres Wollens gleichen sich die beiden Freunde, doch das Schematisdi-Media- nische der Philosophie Marxens erregt den Widerspruch Freiligraths und läßt schließlidi das Verhältnis erkalten. Aber die Hebung des Loses der Armen und Bedrückten, die soziale Reform bleibt für den Dichter die höchste Sinndeutung der Revolution. Freilich, auch ihm bleibt das charakteristische Schicksal aller zu langem Exil Verurteilten nicht erspart: Er entfremdet sich dem geistigen Geschehen der Heimat, verbittert, kehrt sich ab;' erst 1867

kehrt er, inzwischen von der deutschen Öffentlichkeit hochgeehrt, nach 16jähr:gem Exil auf deutschen Boden zurück. Gegenüber dem großen Schwarm der Revolutionsposten, von denen wenig mehr pls der Natne dem Gedächtnis der Nachwelt einverleibt ist, ragt Freili- grath mit Schöpfungen auf, die nie untergehen werden. Seine politischen Gedichte gehören nicht zu seinen bedeutendsten Leistungen, aber die in diesem Bande gebotene Sammlung stellt ein eindrucksvolles Konterfei der Zeit in poetischem Gewände dar, das in der Achtundvierziger Gedächtnisliteratur an den gebührenden Platz gerückt wird.

österreichische Lyrik aus neun Jahrhunderten.

Ausgewählt und herausgegeben von Wulf Strato w a. Verlag Paul Neff, Wien 1948. 407 Seiten.

Die Herausgabe eines solchen Werkes bedeutet eine verdienstvolle, aber ebenso schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe. Das Streben des Herausgebers ging in erster Linie nach Vollständigkeit, und in dieser Hinsicht kann ihm bezeugt werden, daß er kaum einen wesentlichen Autor unberücksichtigt gelassen hat. Was die Auswahl der einzelnen Gedichte selbst betrifft, so wird diese immer bis zu einem gewissen Grade vom persönlichen Geschmack des Kom- pilators- abhängen, und es wird ihm kaum gelingen, es allen zu Dank zu machen. In der vorliegenden Auswahl dominieren freilich allzusehr Natur-, Jahreszeiten- und Liebesgedichte. Das mag zum Teil durdi den allzu engen Anschluß an die bereits 1919 getroffene Auswahl voi. Stefan Hock verursacht sein. Jedenfalls wäre eine lebendigere, zeitnähere Sammlung denkbar, die auch weniger Bekanntes ans Licht gefördert hätte. Sehr zu begrüßen ist. daß der Herausgeber die Gedichte der mittelhochdeutschen Zeit im Original und in Übertragung darbietet. Ein bio- und bibliographischer Anhang machen das Budi zu einem wertvollen Nachschlagewerk. Auch die äußere Ausstattung: Drude Papier und geschmackvoller Einband verdienen besondere Anerkennung.

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