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VIKTOR E. FRANKL / ARZT UND PHILOSOPH

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Universitätsprofessor Dr. Viktor E. Frankl, Vorstand der Neurologischen Abteilung der Wiener Poliklinik, hat sein 60. Lebensjahr vollendet — ein Anlaß, sich das Wirken des Gelehrten zu vergegenwärtigen, in dem sich das praktische Verständnis des Arztes mit dem kritischen Denken des Philosophen vereinigt.

Gordon W. Allport, prominentester Psychologe Amerikas, äußerte sich anläßlich eines Besuchs Prof. Frankls an der Havard Universität folgendermaßen: „Wer sind Ihnen zu besonderem Dank verpflichtet, denn Sie haben uns eine neue Brücke von Wien nach Amerika gebaut — nach dem ersten Brückenschlag, den wir Sigmund Freud und Alfred Adler verdanken.“

Darin kommt nicht nur die weltumspannende Forschertätigkeit Frankls zum Ausdruck, diese „neue“ Brücke deutet auch auf einen entscheidenden Fortschritt der Tiefenpsychologie hin. Wenn man von einer „dritten Richtung der Wiener psychotherapeutischen Schule“ gesprochen hat (W. Soucek), dann ist damit die Existenzanalyse V. E. Frankls gemeint.

Hier handelt es sich aber nicht um eine neue Form der Psychoanalyse. Existenzanalyse will aber auch nicht, wie Frankl immer wieder betont, Psychotherapie ersetzen, sondern zu einem wahren Bild vom „ganzen“ Menschen ergänzen, weshalb sie ein „integrativ-überhöhendes“ Verhältnis zu den klassischen Tiefenpsychologien einnimmt. Unter Existenzanalyse ist eine Explikation des menschlichen Daseins als geistig personaler Existenz zu verstehen. Mit dem Aufweis der geistigen Dimension des Menschen ist auch der Ursprung neurotischer Erkrankungen aufgedeckt worden, deren die bisherige Psychotherapie nicht ansichtig geworden war, da sie nur triebhaft Unbewußtes (und nicht uuch geistig Unbewußtes) kannte. Logotherapeutische Hilfe, wie sie Frankl im Falle der aus einem geistigen Konflikt hervorgegangenen Neurosen (noogene Neurosen) leistet, besteht darin, daß dem Patienten in einem Versuch der Erweiterung des Wertgesichtsfeldes die konkreten Sinnmöglichkeiten seiner personalen Existenz aufgezeigt werden. Frankl trägt aber auch der Forderung nach einer sozialen Psychotherapie Rechnung, in der Erkenntnis, daß dem Ödipuskomplex und dem Minderwertigkeitsgefühl heute längst ein Störfaktor den Rang abgelaufen hat, den Frankl das „Sinnlosigkeitsgefühl“ nennt. In Übereinstimmung sowohl mit fachärztlichen als auch mit kulturpolitischen und religiösen Kreisen ist er sich dessen bewußt, „daß es gilt, die heutige Menschheit durch Erziehung, und ollem voran durch Erziehung, vor dem letzten und endgültigen Absturz in einen Abgrund zu bewahren“.

Wenn nun auch noch die besondere Bedeutung der Existenzanalyse Frankls für die wissenschaftliche Pädagogik hervorgehoben wird, dann hängt das damit zusammen, daß sich diese bei der Suche nach den „Wegen der pädagogischen Anthropologie“ (Titel eines von A. Flitner herausgegebenen Sammelwerkes) auf die Existenzanalyse verwiesen sieht, als eine Forschungsrichtung, in der die anthropologische Fragestellung einen zentralen Punkt darstellt. Im besonderen kommt sie der Absicht F. W. Foersters entgegen, dem pädagogischen Laien zu zeigen, daß der menschliche Geist ebenso Wesensmerkmal der menschlichen Natur ist wie der Leib und die Triebe. So hat es auch der Nestor der Pädagogik nicht versäumt, in einem seiner letzten Werke auf die Schriften V. E. Frankls hinzuweisen, vor allem auf die Existenzanalyse, „in welcher der ganzen Realität und Unabhängigkeit der geistigen Kräfte im Menschen volle Gerechtigkeit widerfährt.“

Und wenn der vor kurzem verstorbene Eduard Spranger vor dem Versinken der Pädagogik im Psychologismus gewarnt hat, sollte sich die Pädagogik der Hilfe der Existenzanalyse versichern, um dieser Gefahr begegnen zu können.

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