Voltaire - © Foto: Imago / Kharbine-Tapabor

Voltaire: Der Vernunft freie Bahn

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Voltaire prägte sein Jahrhundert wie kein anderer Aufklärer. Der deutsche Historiker Volker Reinhardt zeichnet in einer neuen Biografie ein detailreiches Bild des wandlungsfähigen Spötters.

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Voltaire prägte sein Jahrhundert wie kein anderer Aufklärer. Der deutsche Historiker Volker Reinhardt zeichnet in einer neuen Biografie ein detailreiches Bild des wandlungsfähigen Spötters.

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Er war ein Proteus der Verwandlungskunst. Theaterautor, Geschichtsschreiber, Kirchenkritiker, philosophischer Essayist, Erzähler, leidenschaftlicher Verteidiger von Meinungsfreiheit und Toleranz – Voltaire war dies alles nacheinander und oft gleichzeitig. Kein anderer Aufklärer hat sein Jahrhundert so prägend herausgefordert wie er. Sein Lebenslauf hält alles bereit, was man von einem Intellektuellen seiner Zeit erwarten kann, dessen Selbstbewusstsein vor Stolz, Egozentrik und einer unerschütterlichen Sendungsgewissheit überfloss. Mit Witz, Scharfsinn und Hellsicht suchte er, Bürger eines absolutistisch regierten Staats, mal als besonnener Autor, mal als gnadenloser Spötter und Pamphletist dem, was er als Vernunft bestimmt hatte, eine Schneise zu schlagen. Dabei hieß Voltaire gar nicht Voltaire, sondern François-Marie Arouet. Wollte sich der Autor, getrennt von seinem angestammten Familiennamen, neu erfinden? Sich vom übermächtigen Vater, den er als jansenistischen Zuchtmeister erlebt hatte, durch anagrammatische Namensänderung ostentativ befreien? Immerhin, das väterliche Erbe nahm er an und vermehrte es mit hasardhafter Spekulationslust, wozu noch zeitlebens beträchtliche Einnahmen aus Termingeschäften und Bucherfolgen kamen.

Verbaler Waffenträger

Indes, Voltaire war nicht vom Besitz besessen: Ständig von Häschern, Polizeispitzeln und willkürlicher Verhaftung bedroht, sicherte er sich durch sein Vermögen ein Höchstmaß an Unabhängigkeit. Er war kein angenehmer Zeitgenosse. Hochfahrend, eitel, streitsüchtig, nachtragend, meist ein verbaler Waffenträger. Obwohl er, als 1694 geborener Sohn eines angesehenen Pariser Juristen, aus der gutsituierten Mittelschicht stammte, drängte alles in ihm zum Aufstieg in die Oberschicht. Dort nahm er die hochmütige Haltung der alten Eliten an, aus denen er partout nicht mehr vertrieben werden wollte. Der Schmach, von einem zum Duell geforderten Adligen erst durch Lakaien verprügelt und dann ohne Verfahren ins Verlies gestoßen worden zu sein, wich er, schon ein anerkannter Autor, nach England aus. Vom Exil aus eroberte sein Geist zum ersten Mal im Sturm das tonangebende Frankreich und damit halb Europa. Seine „Philosophischen Briefe“ über Englands praktizierte Toleranz in Religion und parlamentarischer Politik bewirkten 1733 einen Klimawechsel in der vorherrschenden Kultur. Britische Skepsis, ein den Lebenstatsachen und der Naturwissenschaft zugewandtes Denken wurden durch Voltaires Vermittlung Mode.

Zurück in Frankreich, suchte er die „Elemente der Philosophie Newtons“ zu ergründen. An seiner Seite: Emilie Marquise du Châtelet, Physikerin, Ehefrau eines Offiziers und 15 Jahre lang Voltaires Geliebte und engste Mitarbeiterin. Eine Ménage-à-trois in dreiseitigem Einvernehmen. Man lebt weitab von Paris auf dem Landsitz des Marquis in der Champagne. Neben etlichen erfolgreichen Dramen und Erzählungen entsteht dort Voltaires monumentale Kulturgeschichte „Das Zeitalter Ludwigs XIV.“. Mit diesem weit ausgreifenden Gesamtpanorama einer für Frankreich äußerst ruhmreichen Epoche gelang dem Autor eine Pioniertat der Historiografie, die nicht mehr bei der aus Haupt- und Staatsaktionen bestehenden Herrschergeschichte verweilte, sondern vor allem die in der Zeit des Sonnenkönigs europaweit Maßstab setzende „révolution d’esprit“ ins Blickfeld rückte. Dabei war Voltaire durchaus kein Antimonarchist. Er träumte, wie Platon, den Traum vom Philosophen auf dem Königsthron. Den Schalmeientönen, die aus den klugen Lockbriefen des Preußenprinzen Friedrich klangen, glaubte er solch hochfliegende Absichten entnehmen zu können. Doch Friedrich II. war ein vom Vater zum Sadisten geprügelter Neurotiker im Königsrock. Voltaires Flucht aus Sanssouci wurde, nach viel Hofkabale und Ranküne, ein veritables Fiasko.

Produktiver Lebensabend

Nichts hasste der Zeitgenosse eines tief kriegerischen Säkulums mehr als den Krieg. Im Mai 1756, kurz vor Ausbruch des von Friedrich II. vorangetriebenen Siebenjährigen Kriegs, fasste ihn das Grauen vor dem bevorstehenden barbarischen Waffenklirren: „So wird das Blut in Deutschland in Strömen fließen, und nach aller Wahrscheinlichkeit wird sich ganz Europa vor dem Jahresende im Kriegszustand befinden. Dabei werden fünfhundert oder sechshundert Personen gewinnen. Der Rest wird leiden.“ Der fast 60-jährige Voltaire retiriert, erst nach Genf, dann auf ein großes, dazuerworbenes Landgut in Ferney. Aber er resigniert nicht, im Gegenteil: In den letzten 25 Jahren seines Lebens zeigt er erst seine proteische Vielgestalt. Er befehdet emphatisch, écrasez l’infâme!, den Vormachtsanspruch der Kirche im Staat – und stellt gleichzeitig in dem berühmten Ausspruch fest, wenn es keinen Gott gäbe, müsste man ihn erfinden.

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