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Vom Leib zur Seele

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Die Verarbeitung, Umsetzung, Metamorphose von physikalisch meßbaren Gegebenheiten der Außenwelt dn psychische Erscheinungen, also in teils unmeßbare, oft unsagbare Qualitäten hat von alters her das psychologisch-metaphysische Interesse des Menschen erregt und zu verschiedenen weittragenden Spekulationen Anlaß gegeben. Wie die Phänomene von Geburt und Tod, Schlaf und Traum stellt die Außenwelt-Leib-Seele-Beziehung ein komplexes erkenntnistheoretisch-metaphysisches, psychologisch-physiologisches Problem dar, an dem kein großer Denker beaohtungslos vorbeiging. Sie ist gleichsam eines jener Tore, die in den Menschen als wissenschaftliches Objekt hineinführen, Zugang zur Rätselhaftigkeit seines Denkens und Fühlens, Eingang in den Hades seiner inneren Betriebsamkeit und höchsten menschlichen Ausdrucksweise.

Ob nun die Lebensgeister (Spiritus animales), wie Descartes formuliert hat, auf dem Blutweg aufsteigen und sich dn der Zirbeldrüse vereinigen, wo der Körper, res extensa, in Wechselwirkung tritt mit dem Geist, res cooitaris — oder ob Geist und Körper ein und dasselbe sind, wovon Spinoza überzeugt war, und jede körperliche Veränderung im Zentralnervensystem eine entsprechende geistige zur Folge hat beziehungsweise mit ihr zusammen eine Einheit bildet, wie zwei Halbkreise einen ganzen Kreis ergeben

— oder ob Geist und Gehirn gar nicht identisch sein können, wie Bergson gefolgert hat, sondern Bewußtsein so weit verbreitet ist wie Leben allgemein — alle diese Ansichten haben ihr Fundament in Überlegung und Selbstbeobachtung, in spekulativer Welt und Ich-Anschauung.

Ob nun als denkendes Subjekt und als gedachtes Objekt zugleich oder in der unmittelbar intuitiven Erfassung seiner selbst, als Selbsterfahrung, immer ist der Mensch sich selbst Ziel und Grenze. Es bleibt seine Ansicht über sich selbst bruchstückhaft, geradezu herausfordernd fragmentarisch. Der Mensch erfährt bei dem Versuch, sich selbst zu erforschen, seine Unfähigkeit, über sich selbst hinauszugelangen, denn

— wie Pascal es ausdrückt — „wie sollte es möglich sein, daß ein Teil das Ganze erkenne“.

Der Weg des Experiments

Wenn auch jeder die „Koinzidenz von Leib und Seele“ (Jaspers) an sich selbst erlebt und kein Mensch zu Lebzeiten als bloßer Leib oder als bloße Seele denkbar wäre, versuchte man immer wieder in experimentellwissenschaftlicher Weise dem Leib-Seele-Problem gerecht zu werden. Die Konstitutionstypologie, von E. Kretschmer begründet, brachte zum Beispiel Arten des Erlebens mit solchen des Körperbaus in Beziehung. Die Psychosomatik berief sich auf Tatsachen körperlich-seelischer Wechselwirkungen, wie wir sie alle kennen: man denke an die verschiedenen körperlichen Begleitzustände von Emotionen, wie Zorn und Trauer, Angst und Freude. Darauf aufbauend entwickelte sie einen psycho-therapeutischen Zugang zu organischen Leiden, wie dem Asthma oder dem Magengeschwür. Andererseits hat eine Anzahl von chemischen Verbindungen als psychotrope Wirkstoffe unser Wissen über soma-topsyohdsche Zusammenhänge und unsere Einflußnahme auf psychische Phänomene über den Weg des Körperlichen wesentlich vorangetrieben. Die ersten experimentellen Ergebnisse über psychophysische Zusammenhänge wurden an Hand der Erregungsleitung am peripheren Nerv und an Hand der Reflexlehre gewonnen. Das Weber- und Fechner-sche Gesetz als Ausdruck der Wechselwirkung von Nervenerregung und Empfindung sollten Aufschluß ergeben über die numerische Beziehung von Empfindung und Stärke eines äußeren Reizes. Während ihnen in der „äußeren Psychophysik“, das heißt angewandt auf Reiz und Empfindung, nur annähernde Gültigkeit zugesprochen wurde, sollten sie in der „inneren Psychophysik“, also in der Beziehung zwischen Gehirnvorgängen und Bewußtseinsprozessen, absolute Geltung haben.

Diesen Erkenntnissen wurde entgegengehalten, daß Bewußtseinserscheinungen doch nur wieder an Phänomenen des Bewußtseins gemessen werden können, daß ihnen also nur eine relative Gültigkeit beigemessen werden soll. Gelingt einem Seismographen aber nicht auch der absolute Nachweis eines Bebens, wiewohl oder weil er gerade selbst mitschwingt? Vor allem wies Wilhelm Wundt auf die mögliche Meßbarkeit innerer psychischer Vorgänge hin, so zum Beispiel, daß sich die Dauer der Apperzeption oder Assoziation verschiedener einfacher oder zusammengesetzter Vorstellungen genau bestimmen läßt

Vom Problem der Reiz-Impuls-Relation gelangte man bald zu Fragen, wie die Tätigkeit der Zellen im Gehirn vor sich gehe und inwieweit gewisse Hirnzentren für bestimmte Funktionsleistungen verantwortlich sein könnten. Und relativ früh wurden jene Prinzipien der Hirnphysiologie entwickelt, die heute noch Gültigkeit besitzen: daß jedes „Nervenelement“ (Wundt) erst durch die Verbindung mit anderen funktionstüchtig ist, daß kein Nervenelement für sich eine spezifische Leistung vollbringen kann, daß diese von den Verbindungen der Nervenelemente abhängig ist. Dafür können andererseits bestimmte Hirnpartien die Funktion von gestörten Elementen stellvertretend übernehmen, sofern ihnen dementsprechende Verbindungen zur Verfügung stehen. Und praktisch muß es für jede Funktion des Menschen einen Ort im Zentralnervensystem geben, in dem sie „aufgehoben“ ist und von dem sie ausgeht. Außerdem unterliegt das ganze Nervensystem dem gegensätzlichen Einfluß von Hemmung und Bahnung, einem der wichtigsten Gesetze der Hirnphysiologie, das bereits 1906 von Sherrington entdeckt wurde.

Zwei grundlegende Entdeckungen

Diese Vorstellungen vom Wesen und der Funktion unserer Nerventätigkeit haben in letzter Zeit durch zwei grundlegende Entdeckungen eine gewaltige Bereicherung erfahren: einmal durch die Entwicklung feinster Elektroden, die eine Ableitung langsamer elektrischer Potentiale von der Hirnrinde ermöglichen, und zum andern die Erfindung der Elektronenmikroskopie, welche es uns ermöglicht, die Strukturen kleinster Viren und großer organischer Moleküle sichtbar zu machen. Bei der Ableitung von Potentialkurven entweder direkt von der Hirnrinde eines Tieres oder von der unversehrten menschlichen Kopfhaut zeigt sich eine gewisse Abhängigkeit der elektrischen Kurven von peripheren, das heißt in der Außenwelt gelegenen Reizsignalen. Ein von außen kommender, überschwelliger Reiz, der auf eine Sinneszelle trifft, wird normalerweise zentripetal über Bahnen des Rückenmarks aufwärts weitergeleitet. Unter bestimmten Voraussetzungen ist der weitergeleite. Impuls der Größe des Ursprungliehen Reizes proportional und als solcher erkennbar.

Im zentralen Teil des Nervensystems ist das allerdings dann nicht mehr der Fall. Die „Information“, das Endprodukt der Meldungen, die von der Peripherie herangeleitet und in der Zelle gespeichert werden, weist diese Proportionalität zum ursprünglichen Reiz nicht mehr auf. Denn das Zentralnervensystem hat die Möglichkeit, auf verschiedene Weise die aus der Peripherie parallel oder hintereinander einfallenden Reize zu fördern oder zu hemmen. Es vermag mittels efferenter, zentrifugaler, in das Rückenmark absteigender Bahnen, die an sogenannten Synapsen enden, ein und denselben Reiz zu variieren, ihn also zum Beispiel zu drosseln, wie das auch ein elektronisch arbeitender Computer vermag. Bei dieser Informationsverarbeitung dürfte dem Organismus eine ähnliche Möglichkeit wie die der ..Autokorrelation“ zur Verfügung stehen, wobei also stets phasengleiche Größen mit gleicher Polarität vergrößert, andere, deren Polarität und Phase jeweils wechselt, dagegen annuliert werden.

Lebenswichtige Signale

So erscheint uns ein recht greifbares, allerdings elektronisch gefärbtes Bild unserer Nerventätigkeit. Diese Vorstellungen geben den Sachverhalt sicherlich nur höchst vereinfacht wieder, denn die Fakten sind durchaus nicht so elektronisch-unproblematisch. Zum Beispiel werden von den peripheren Sinneszellen wesentlich mehr „Informationen“ gesammelt und weitergegeben, als im Zentralnervensystem eines Menschen überhaupt gespeichert werden können. Das bedeutet, daß in Kürze eine Überfüllung an Informationen in den höchsten Nervenstrukturen des Menschen eintreten würde. Wir würden plötzlich nichts mehr wahrnehmen können und unser Gedächtnis würde irgendwo blind enden. Doch gelangen alle von der Peripherie weitergeleiteten Reize tatsächlich in die rationale und bewußte Region der Großhirnrinde? Steht ihnen nicht auch die Möglichkeit offen, in motorische Regionen abzubiegen und dort reflexartig Impulse auszulösen, bevor sie in die „höchste Bewußtseinsebene“ des Cortex gelangen? Gibt es nicht so etwas wie eine Optimalisierungs-tendenz, eine potentielle Fähigkeit des Zentralnervensystems, sich in seiner Gesamtheit momentan lebenswichtigen Umweltreizen zur Verfügung zu stellen. Umweltsignalen, die zur Erhaltung des Individuums notwendig sind und zugunsten denen andere, augenblicklich weniger lebenswichtige Umwelt-Informationen unterdrückt, übersehen werden?

Was geschieht mit den Informationen?

Wie kann aber überhaupt in un-serm Gehirn, in einer Zelle unseres Körpers gespeichert werden? Was geschieht mit den von den Peripherie an eine zentrale Nervenzelle herangetragenen „Informationen“? Denn prinzipiell muß jede Zelle unseres Körpers zur Speicherung von Informationen fähig sein, soll sie der Forderung nach einem normgerechten, physiologischen Verhalten nachkommen können.

Die 1962 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Forschungen von Wat-son und Crick vermitteln uns sehr brauchbare Vorstellungen von der Molekularstruktur einiger Substanzen, die sich in den Zellen befinden. Ribonucleinsäuren nehmen in der Physiologie des Gehirns eine Schlüsselposition ein. Sie bestehen aus purin- oder pyrimidinhältigen Zuk-kerbasen, deren Aufeinanderfolge und Kombination genetisch festgelegt ist und die wie eine Wendeltreppe zu einer Helixstruktur verformt sind. Wasserstoffbrücken, welche die Basen miteinander verbinden, können vorübergehend gelöst und die Sequenz der Basen durch eine „Information“ oder einen „Lernvorgang“ auf diese Weise verändert werden. Man kann demnach von einer strukturellen intrazellulären Informationsspeicherung sprechen, eine Hypothese, die durch Beobachtungen und Experimente jedoch mehrfach untermauert wurde. Im Gehirn finden sich die nunmehr ails Informationsträger erkannten Nuc-leinsäuren vorwiegend in den sogenannten Nissl-Sdhollen, die man freilich mit gewisser Vorsicht als „Speicherorgane von Gedächtndsinhalten“ (Glees) bezeichnen kann.

So gelangt also der Reiz-Impuls von der Peripherie kommend über die Synapsen des Nervensystems in das molekulare Gefüge der Zelle, in der er „aufgehoben“ wird. Mancher Impuls wird in verschiedenen Zentren gleichzeitig „anwesend“ sein, andere wieder werden reflexartig abgeleitet und sich in motorischen Ledstungen oder vegetativen Phänomenen äußern.

Das Psychische als grundlegende Kategorie

Bis ins zelluläre Detail ist uns also der periphere, dann zentrale Reiz-Reaktions-Ablauf klargeworden. Von der philosophischen Spekulation ist zumindest teilweise eine Wendung ins Physiologische eingetreten. Unerklärlich jedoch und mysteriös bis heute — vielleicht mehr als jemals — ist, was sich dann in der Zelle vollzieht.

Schon die Tatsache, daß die „höchsten Nervenstrukturen“ des Menschen im Vergleich zu den Primaten eine gewaltige Steigerung erfahren haben, ohne daß aber die „gebundenen, erblich geregelten Verhaltensweisen“ (Portmann) dementsprechend vermehrt sind und ohne daß sie im Vordergrund unseres menschlichen Daseins stehen, muß vor einer allzu einseitigen Auslegung der physiologischen Gedächtnistheorie abhalten. Anscheinend haben wir nicht deshalb um soviel mehr Nucleinsäure in unserem Gehirn, um besser determiniert zu sein, sondern um selbst besser determinieren zu können.

Wir können den physikalischphysiologischen Impuls bis in die molekulare Feinstruktur der Zelle verfolgen, das Psychische aber scheint in uns zu sein als grundlegende Kategorie, unabhängig von aller Erfahrung, vor aller Erfahrung. Ahnbar wird uns, worin das letztlich unreduzierbar Psychische bestehen kann.

Bewußtsein, Außen- und Innenweltgrenze, Traum und Vorstellung, Materie und Geist sind vorläufig unauffindbar in den submolekularen Raum abgestürzt. Die lodernde Fak-kel, die den Menschen licht und hellwach emportreibt zu größten Gedanken, Gefühlen und Taten — seine Beseeltheit, in die sein Instinkt, seine Würde, sein biologisches Erbe und seine Gottähnlichkeit eingeschmolzen sind, bleiben ein brennendes Geheimnis.

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