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Vom Wissen über den Menschen

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Ein Lehrfach der Anthropologie, der Wissenschaft vom Menschen, kennt die Universität nur unter den Naturwissenschaften als Lehre von der Art Mensch der Gattung Säugetiere. Wollen wir erfahren, was der Mensch sonst noch ist, werden wir auf eine Menge anderer Wissenschaften verwiesen, deren Vertreter einen langen, zum Teil auch heute noch nicht beendeten Kampf darüber führen, ob sie eine Geistes- oder eine Naturwissenschaft betreiben: auf die Psychologie mit ihren diversen Abarten, die Gesellschaftswissenschaft, die Geschichtswissenschaften, die Wirtschaftswissenschaft, ferner auf die philosophische Behandlung dieser Wissensgebiete und auf die reine Philosophie. Alle behandeln ein Stück vom Menschen, soweit es im Gegenstand ihrer Wissenschaft aufscheint: sein „seelisches“ Leben, den Menschen in seinem Handeln, in seinen Schöpfungen, im Rahmen eines philosophischen Systems. Nach der Katastrophe des ersten Weltkrieges erschienen Bücher, die die Frage: was ist der Mensch? nicht in Zusammenfassung der Ergebnisse der oben angeführten Wissensdiaften l, sondern auf Grund einer unmittelbaren philosophischen Besinnung zu beantworten versuchten, die ihrerseits erst diesen Wissenschaften die Begründung geben kann. Denken wir an Theodor Haecker, Nicolaj Berdjajew, Jaques Maritain oder an den Dichter Georg Bernanos. Denselben Ausgangspunkt nimmt Lugmayers Buch2. „Worin liegt der wesentliche Unterschied des Menschen zum Tier?“ Nicht darin, daß der Mensch ein seelisches“ Leben hat, das hat auch das Tier. „Der Mensch hat ein Sein, das sich erkennt und will, ein Ich.“ Das Sein dieses „Ich“ nehmen wir im Erkennen und Wollen unmittelbar wahr, andererseits ist unser Erkennen ohne Sein und Wollen nicht möglich. Erkennendes und erkanntes Sein sind dasselbe. Da es kein Erkennen ohne Wollen gibt, ist das „Ich“ ein freies Wesen.

Lugmayer nennt dieses „Ich“ nach den wechselseitigen Beziehungen von Sein, Erkennen und Wollen die „Dreierordnung“. In der Außenwelt, der „Natur“, nehmen wir mit Hilfe der vier Erkenntnisweisen, die zugleich Erscheinungsweisen sind: Maß (Gesetzmäßigkeit), Kraft, Raum, Zeit, nur Ordnungsgefüge wahr, die Erscheinungswelt der „Viererordnung“. „Unser Sein offenbart sich im Erkennen und Wollen, aber eben nur unser Sein. Das dreieinheitliche Sein. Das Sein der Viererordnung hingegen zeigt sich in den Grunderscheinungen von Kraft, Gesetzmäßigkeit, Raum, Zeit Und all der Vielfalt der Erscheinungen, die sich auf diesen Grunderscheinungen aufbauen. Wo Wille Und Erkenntnis fehlt, gibt es kein Ich, Wille und Erkenntnis machen das Sein zum geistigen Sein. Daher ist jeder Mensch Seinsträger, während alle Erscheinungen der Viererordnung zusammen von einem einzigen Sein getragen sind.“ Dieses Sein können wir nur erschließen. Der Viererordnung gehört auch der Mensch an, soweit er körperliche und seelische Erscheinung ist, das heißt, auch das sogenannte „Seelenleben“ des Menschen (Gedächtnis, Vorstellungen, Empfindungen, Gefühle) gehört nicht zum Wesen des Menschen. Dreierordnung und Viererordnung müssen im Sein scharf voneinander abgehoben werden, sonst kann weder das eine, das „Ich“„ noch das andere, die „Natur“, erkannt werden. So weit geht die Erkenntnis auf Grund der „persönlichen“ und der gesellschaftlichen Erfahrung“. Von unserem Sein und dem angenommenen Sein der Erscheinungswelt wird nun auf ein Ursein geschlossen. Der Schluß (Seite 25) ist für den Leser nicht zwingend, er ist auch nur durch die plötzliche Einführung des Begriffes Erschaffung möglich. Aber er ist auch nicht das Entscheidende: Denn erst die Anerkennung der Offenbarung als Erkenntnisquelle neben der Erfahrung gibt die Möglichkeit, nach dem daraus gewonnenen Grundsatz der Entsprechung, der analogia entis, das eigentliche Wesen des Menschen (das „Ich“) zu erkennen und es von allen Erscheinungen der „Natur“, auch seiner eigenen psycho-physischen Erscheinung, abzuheben als eine ebenbildliche Dreieinheit von Sein, Erkennen und Wollen, geschaffen vom Ursein als Dreieinheit Vater — der Seiende, Sohn —i Wort, Hauch — Helfer. Lugmayer kann sich hier auf Augustin berufen. Erst so wird klar, daß „Sein“ für Lugmayer kein begriffliches Apriori ist, er kann Sein als den „stärksten“ und „vollsten“ Begriff bezeichnen.

Nebenbei sei darauf verwiesen, daß hier das „Grundproblem der christlichen Wissenschaft“ (Alois Dempf) gegeben ist: „Ist Wissenschaft von einer Offenbarung überhaupt möglich?“ Für Lugmayer ist es kein Problem, er nimmt als Denkender das Christentum als Offenbarungsreligion ernst. Im ebenbildlichen Wesen des Menschen als einer Ordnung von Sein, Erkennen und Wollen liegt es, daß der Mensch den Willen zum Glauben an die Offenbarung aufbringen muß, da er sich sonst der Erkenntnis beraubt. Das Erkennen geht nicht ohne Wollen vor sich, darin liegt die Freiheit des Menschen.

Gegen das Buch werden Einwände erhoben werden: es ist beim Versuch einer Klärung der Begriffe aus den Bereidien: Sein, Erkennen und Wollen manchmal reine Worterklärungslehre, die die landläufigen oder ursprünglichen Wortbedeutungen als Ausdruck einer wissenschaftlichen Erkenntnis faßt, darin teilt es das Schicksal aller Seinslehren; trotz der klaren Sprache ist manche Formulierung unklar. Für diese Besprechung kommt es aber darauf an, daß es Lugmayer gelingt, durch die scharfe gedankliche Abhebung des Wesens des Menschen als ebenbildlidie, freie, geistige Ordnung von seiner eigenen psychologischen Erscheinung, zu der das ganze seelische Leben gehört, — anders als dies bisher audi bei der dirist-lichen Philosophie der Fall war —, einige Tatsachen zu erklären und Folgerungen zu ziehen, die für eine philosophische Anthropologie von Bedeutung sind:

1. Erklärt wird die Tatsache des freien Schaffens des Menschen. 2. Begründet wird die „wesentliche Gleichheit“ der Menschen durch den Begriff der Ebenbildlichkeit. „Ohne wesentliche Gleichheit der Menschen aber gibt es keinen gleichen Bezug des Handelns. Es müßte dann jede Handlung jedes Menschen nur auf eben diesen Menschen bezogen werden und könnte nicht auf eine Allgemeinheit, eine Mehrheit . übertragen werden.“ 3. Gewonnen wird die „volle Sicherheit“ der Erkenntnis des Nebenmen-schen und damit die Grundlage für eine Gesellschaftswissenschaft. Alle Versuche, diese auf ein soziales Apriori aufzubauen, führen ja zu rein formalen, inhaltslosen Erkenntnissen, andrerseits verleitet jede „psychologische“ Begründung immer wieder dazu, mit Entsprechungen aus dem Pflanzen- oder Tierreich zu arbeiten. 4. Gewonnen wird ein vernünftiger Standpunkt in der Wirrnis der Auffassungen vom Wesen des menschlichen Handelns und der menschlichen Werke in den Geschichtswissenschaften. 5. Die Fragen, die mit den Worten Gerechtigkeit, Recht, Macht, Gewalt auftauchen, können weiter geklärt werden. Wie notwendig wäre es, für die heute so entscheidende Frage der Entmachtung, der Loslösung vor allem aller kulturellen Einrichtungen und auch der wirtschaftlichen von den diversen „Mächten“ eine richtige geistige Grundlage zu haben.

Lugmayer sagt in den Vorbemerkungen zu seinem Buch, daß er bloß „roh behauene, manchmal auch ganz unbehauene Bausteine und einen Bauplan vorlege“. Das soll beachtet werden. Der Plan ist auch für eine philosophische Anthropologie vorgelegt, er berücksichtigt voll die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften. Vielleicht kann die Diskussion eine Klärung der wissenschaftlichen Begriffe der Lehre vom Menschen bringen. Die Beantwortung der Frage: Was ist der Mensch? hat unmittelbare große pädagogische und politische Bedeutung. Dies vor allem heute, wo manches neu geordnet werden soll. Sollte es da nicht an der Zeit sein, eine Lehrkanzel für Philosophische Anthropologie, verbunden mit allgemeiner Gesellschaftslehre, im Rahmen der philosophischen Fakultät zu errichten? Studierende, die später als Lehrer die Jugend bilden sollen, müßten in eine Lehre vom Menschen eingeführt werden, wenn sie Menschen erziehen sollen. Auch der Naturwissenschaftler, Geograph, Mathematiker, Turner, Zeichner usw. braucht eine Kenntnis vom Wesen des Menschen. Die wichtigsten Schlagworte: Demokratie, Humanität, soziale Verantwortung könnten etwas ihrer Funktion als Schlagworte entkleidet und zu inhaltsreicheren Begriffen werden. Weniger Gefühle und Affekte, mehr Erkenntnis und Wissen sind auch heute politische Forderung.

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