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Vor- und Nachteile eines Sammelwerkes

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Deutsche Geschichte im Ueberblick. Herausgegeben unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter von et er Rassow. Ein Handbuch. Stuttgart. J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung. 1953. Gr. 8. 7 + 866 Seiten

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Deutsche Geschichte im Ueberblick. Herausgegeben unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter von et er Rassow. Ein Handbuch. Stuttgart. J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung. 1953. Gr. 8. 7 + 866 Seiten

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Vorab wohlverdiente Anerkennung, die wir den bestgelungenen Abschnitten dieses Sammelwerks gesondert bezeigen und die wir ihnen allen — denn kein einziger gleitet unter ein sehr achtbares Niveau — pauschal aussprechen wollen. Professor Schieffers Synthese der Salier-Zeit ist überreich an knappen und treffenden Charakteristiken, vorab der drei Heinriche und ihrer päpstlichen Gegenspieler; sie sorgt mit begrüßenswertem Eifer um das Herausarbeiten der gesamteuropäischen Querverbindungen und sie umreißt dort, wo es nottut, mit mutiger Schärfe neuerdings gesicherte Tatbestände, die sehr vom Herkömmlichen abweichen, so beim Bericht von Canossa, das seit Bismarck eine tendenziös-falsche Deutung erfahren hatte.

Professor Rassow, der Herausgeber des Handbuchs, bewährt sich in den Kapiteln über die Hohenstaufen und über die Zeit Karls V. und Luthers als der souveräne Kenner jener Epochen, den wir aus seinen Werken über Barbarossa und Karl V. längst schätzen gelernt haben. Ihm und einem zweiten Meister, Otto Brunner — dem wir die Abschnitte über Habsburger und Luxemburger, dann über die Gegenreformation danken —, verübeln wir, wenn etwas, nur, daß sie diese ihre Meisterschaft in der Beschränkung auf allzu knappen Raum dartaten. Das sollte, das muß bei künftigen Neuauflagen anders werden. Brunner, der unvergleichliche Schilderer der Barockgesellschaft, ist wie kaum einer dazu berufen, auch im Rahmen eines Kompendiums mehr über die gesellschaftlichen Schichtungen, über Denken und Tun im Herbst des Mittelalters und zur Zeit der konfessionellen Großkämpfe zu bieten, als er das im zu engem Rahmen tun durfte.

Schreiten wir über Hinrichs, der den Absolutismus im Blitzzugtempo durchhastet und bei dem zum Beispiel das Bildnis Friedrich des Großen noch zu sehr und über Gebühr (oder sollen wir sagen, wie bei Otto Gebühr?) erstrahlt, zum an sich recht wohlgeratenen Beitrag Karl Dietrich Erdmanns über die Napoleonische Epoche. Auch da beklagen wir eine Kürze, die im schroffen Gegensatz zum beträchtlichen Umfang beharrt, den gerade jene Jahre der Entscheidung, zum Beispiel in Frankreich, bei jedem Historiker erhalten. Zu Scharffs Geschichte der Metternichschen Aera müssen wir erhebliche Bedenken äußern. Sie erstrecken sich, abgesehen von allgemeinen Gesichtspunkten, noch auf die mangelnde Berücksichtigung der durch Namier so eindringlich klargelegten Rolle der Intelligenz bei der Revolution von 1848/49 und bei deren Vorspiel, auf ungenügende Vertrautheit mit den Auffassungen der tschechischen, südslawischen, polnischen und ungarischen Historiker, die alle zu den von der deutschen Entwicklung unabtrennbaren Ereignissen in der Habsburger-Monarchie Wesentliches gesagt haben. Schwarzenberg ist nicht in seiner ganzen Bedeutung erschaut. Und die These von der unerläßlichen Einheit aller Sprachgenossen in einem Staat verwischt, obzwar sie nirgends positiv verfochten wird, das im Rassowschen Sinne objektive, ' nämlich von innen her, aus Zeit und Raum gesehene, Bild der Geschehnisse im Donauraume. Klukes recht einläßliche Darstellung der Jahre 1851 bis 1S71 befriedigt bis auf drei Episoden: die österreichische Politik im Krimkriege und gegenüber dem Polenaufstand von 1863 ist teils unzutreffend, teils ungenügend behandelt; der Autor kann sich nicht entschließen, die national verbrämte Vergewaltigung Dänemarks frei von schleswig-holstein-meerumschlungenen Gefühlstönen einzubekennen, und endlich der Ausbruch des deutsch-französischen Krieges wird zwar in Abstand von früheren offiziösen Legenden sachlich aufgehellt, doch beschönigt Kluke die zielbewußte Provokation, durch die Bismarck den keineswegs engelreinen noch friedenstrunkenen Napoleon III. in die Rolle des formalen Angreifers hineinmanövrierte und er deckt nicht völlig die verhängnisvollen Fernwirkungen auf, die von der erzwungenen Annexion des Elsaß und Lothringen ausgingen.

Mit um so größerem Beifall danken wir Professor Theodor Schieder für das mustergültige Bild der Bismarckschen Epoche des Zweiten Reiches. Die geistigen Strömungen, die komplizierten weltpolitischen Verknüpfungen, die beide durch das Wirken des genialen Kanzlers bedingt wurden, sind klar und tiefschürfend geschildert. Schieder hat stets das richtige maßvolle Urteil, auch in so entscheidenden Fragen wie dem Kulturkampf — den er als Hauptirrtum Bismarcks bedauert — und wie dem schier unentwirrbaren System der Allianzen und Rückversicherungen, an dem der Eiserne Kanzler schließlich gescheitert ist.

Nicht minder vorbildlich dünkt uns die Art, in der Professor Werner Cunze das heikle Vorhaben gelöst hat, die uns zeitlich so nahen Perioden Wilhelms II. und der Weimarer Republik synthetisch zu erfassen. Er ist der Gefahr entronnen, in Publizistik oder in deklamatorisches Moralisieren zu verfallen. Besonnen und auf einwandfreien Fakten gründend, erzählt er eine Folge von Haupt- und Staatsaktionen, die uns rückschauend als eine Schicksalstragödie mit unvermeidlichem furchtbaren Ausklang erscheinen. In manchen

Einzelheiten sind wir anderer Ansicht als Cunze: er mindert die serbische Verantwortlichkeit für den ersten Weltkrieg, die erst jüngst wieder im revidierten Apis-Prozeß dargetan wurde, herab und er stellt das wilhelminische Deutschland zu sehr als Opfer seiner Bundestreue gegenüber einem kriegslüsternen österreichischen Verbündeten hin; er nennt die preußischen Polen „zuverlässig“ (und sollte sich daraufhin die Erinnerungen Seydas ansehen); er erkennt nicht den leichtfertigen Wahnwitz des sogenannten Brotfriedens von Brest-Litowsk, noch zeigt er, wie es sich ziemte, die Verantwortlichkeit Ludendorffs an der Machtübernahme des Bolschewismus in Rußland. Doch gegenüber diesen Einwänden müssen wir die ausgezeichnete Gesamtleistung hervorheben, die lichtvolle Erörterung der innenpolitischen Evolution der Weimarer Republik loben und besonders die unwiderlegbare Beweisführung rühmen, mit der Cunze die Unterfertigung des — von ihm an sich scharf gerügten — Versailler Friedens durch die damaligen deutschen Staatslenker rechtfertigt. Cunzes Kapitel ist der würdige Auftakt zum Höhepunkt des gesamten Handbuchs, dem unübertreffbaren „Hitler und der Nationalsozialismus“ von Hermann Mau.

Es gibt keine andere Arbeit, die das ungeheure, ungeheuerliche Thema mit so vollkommener Ueberlegenheit bewältigt hätte. Wir verspüren den Hauch der großen Geschichtsschreibung, die sich an einem ihr widerstrebenden Gegenstand glorreich bewährt. Mau schöpft aus der Vielfalt seiner Einsichten in das schier unübersehbare Quellenmaterial, aus dem Ethos eines unbeirrbaren christlichen und nationalen, doch auch europäischen Gewissens. Und obzwar wir auf Schritt und Tritt die innere Ergriffenheit des Mannes spüren, der mitleidend jene Zeit des Zornes erlebt hat, vermeidet Mau überflüssige Gefühlstöne, Entrüstungsausbrüche, die angesichts der nackten Tatsachen nicht nötig sind. Spiel und Gegenspiel, verspielende Hasardeure und verblendete Systemspieler, die wähnten, durch kunstvolles Kriegsspiel (und Antikriegsspiel) ein System zu stürzen, dem es bis zuletzt in allem blutig ernst war: sie alle werden vom Autor durchschaut und durchleuchtet. Die letzten Masken fallen, und in seinem ganzen Grauen enthüllt sich uns der Schrecklichste der Schrecken: der Mensch, der Unmensch in seinem Wahn. Worauf dann, aufs bescheidenere Maß einer trockenen Chronik reduziert, der Bericht vom Ruinenfeld geschieht, das vom Dritten Reich hinterlassen worden ist. Wilhelm Cornides hat ihn erstattet.

Es reiht sich nun noch eine „Bibliographie der Deutschen Geschichte“ von Dietzel an. Sie hat — angesichts des älteren bis 1930 reichenden, unersetzlichen Handbuchs von Dahlmann-Waitz, das in neunter Auflage von H. Haering herausgegeben

wurde, und einer kürzeren Arbeit von G. Franz „Bücherkunde zur deutschen Geschichte“ (1951) — umgrenzte Ziele. Den Studenten und den andern, zu tieferem Eindringen gewillten Lesern des Handbuchs sollen die wichtigsten neueren Veröffentlichungen zur Deutschen Geschichte genannt werden. Dietzel hat sich redliche Mühe gegeben. Es mangelt jedoch dem erprobten Büchereibeamten an der kritischen Sachkenntnis zu den einzelnen Abschnitten, so daß viel Ueberflüssiges, wie zum Beispiel die „Oesterreichische Geschichte“ von Priester, mitgeschleppt, dagegen mitunter — weit seltener — Belangreiches übersehen wird, so Blochs, Calmettes und Ganshofs kapitale Arbeiten über die feudale Gesellschaft, die bahnbrechenden Untersuchungen v. Dungerns, Schlesingers „Entstehung der Landesherrschaft“, übrigens auch Zöllners „Politische Stellung der Völker im Karolingerreich“, samt den Studien Mitis' über die großen Familien des Frühmittelalters, dann Heers neueste Arbeit „Die Tragödie des Heiligen Reichs“.

Stichproben aus späteren Epochen zeigen zum Beispiel, daß bei Friedrich dem Großen die wichtigen Arbeiten Konopczynskis fehlen, ebenso wie Chesters „Prince Henry“, daß Novotnys „Kaunitz“ durch Abwesenheit glänzt. Wie wir schon öfters mit Betrübnis konstatierten, sind slawische Werke beinahe grundsätzlich übergangen; wenn ausnahmsweise eines erwähnt wird, dann mit ver-alterter Auflage, wie Feldmans „Bismarck a Polska“, von dem die 2. Auflage von 1947 maßgebend ist. Wir vermissen das nicht beiseite zu schiebende russische Werk von Erusalimskij über die deutsche Außenpolitik (2. Auflage 1951). Doch auch sonst hapert es mit ausländischer Literatur. So suchen wir vergebens die beste Darstellung der Vorgeschichte des ersten Weltkrieges, Albertinis „Origipe della Guerra del 1914“ (drei Bände, 1945), das Buch über die Annexionskrise von 1908, nämlich Wittrocks „Oesterrike-Ungarn i bosniska Krisen“ (Upsala 1939), Baumonts „Faillite de la Paix“ (2. Auflage, Paris 1946). Ganz unzulänglich wird die Bücherkunde, wenn sie auf altösterreichisches Territorium übergreift. So ist zum Beispiel Oesterreich im ersten Weltkrieg nicht ohne Kenntnis der tschechischen Werke, mit Peroutka an der Spitze, zu studieren. Zusammenfassend wiederholen wir unsere Ueber-zeugung, daß Rassows Handbuch derzeit das beste seiner Art ist, das sich seinen Platz an Stelle älterer Unternehmen — der Sammelwerke von Gebhardt und O. Brandt-A. O. Meyer — oder diesen zur Seite rasch sichern wird. Um aber jeden Rivalen auszuschalten, müßten die älteren Zeiten, bis 1786 (oder 1792) etwa in d e m Umfang behandelt werden, der dem neunzehnten Jahrhundert zugebilligt wurde. Den Unterschied im Niveau zwischen Kapiteln wie dem alles überragenden Maus, denen Rassows, Brunners, Schieders und Cunzes einerseits, den immer noch wissenschaftlichen Rang wahrenden übrigen Abschnitten anderseits müssen wir als unabdingbare Eigenschaft jedes Sammelwerks hinnehmen.

Univ.-Prof. Dr. Otto Forst de Battaglia.

in der Aphorismenform wiederzugeben, in der er verfaßt ist, und nicht zu paraphrasieren, wie es die meisten deutschen Uebersetzungen tun. Die Anmerkungen des später so unglücklich gewordenen De Lamennais sind zwar wertvoll, aber wir möchten doch glauben, daß ein kleineres und handlicheres Format die Ausgabe weiteren Kreisen zugänglich gemacht hätte, als es nun die große und durch diese Anmerkungen bereicherte Ausgabe tut.

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