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Vorrang der Innerlichkeit

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Für das allgemeine Bildungsbewußtsein ist die „Reformation“ mit dem 31. Oktober 1517 verknüpft, und der Augustänermönch und Theologieprofessor Dr. Martin Luther steht vor uns als ihr maßgeblicher Repräsentant und Interpret. Daß er als Person und mit seiner Theologie

auch\ einer der vielen großen Einsamen der Geschichte ist, die von der Bewegung, die sie entfesselten, nie ganz verstanden wurden, ist von ebensolcher Bedeutung wie die andere Tatsache, daß die „Reforma--tion“ mehr war und ist als die Tat eines einzelnen. Dennoch wirkt er exemplarisch: Seine reformatorische Tat erwuchs aus tiefstem seelischem Ringen im Kloster, und doch wurde sein Wort wie seine Feder, trotz beider volkstümlicher Durchschlagskraft auf der Kanzel und in der Flugschrift, vor allem auf dem Katheder im Hörsaal der Universität begründet und geformt, und dies gab „seiner“ Reformation bis heute ein entscheidendes Gepräge. Kämpfe und Anfechtungen des Herzens wie des Geistes und deren Bewältigung durch das Evangelium als der frohen Botschaft von Gottes Liebe in Christus bestehen mit deutlichem Vorrang vor den gewaltigen und weitreichenden Konsequenzen für die Kirchenreform und für die Wandlung im Verhältnis des Christen zur Welt. Dieser Vorrang der Innerlichkeit und des leidenschaftlichen Ringens des Geistes gibt der lutherischen Reformation ihr besonderes Gesicht — einschließlich der damit gegebenen gefährlichen Einseitigkeit und eines denkerischen Radikalismus, ohne die freilich auch die Durchschlagskraft des „protestantischen Wagnisses“ nicht denkbar erscheint.

Impulse und heilsame Unruhe

Luther, der in mancher Hinsicht traditionsgebundener, mittelalterlicher und konservativer war als Zwingli und Calvin und daher weniger als diese „modern“, was schwerwiegende Folgen für bestimmte politische und wirtschaftliche Grundprobleme hatte, hatte andererseits sowohl die Heilsfrage als auch überhaupt das Gottesproblem des Menschen auf völlig neue Grundlagen gestellt. Diese konnten in späterer Zeit zwar vom kirchlichen Luthertum oft verdeckt und nach rückwärts verändert werden, aber der reformatorische Ansatz wirkt sich bis heute weltweit und in immer neuen Anstößen so eigenartig aus, daß beispielsweise der moderne Ökumenismus in allen Konfessionen ohne diese Antriebskräfte undenkbar wäre, obwohl die spezielle Kenntnis von Luthers eigentlicher Theologie im Vergleich zu ihrer Wirkung eher mäßig und gering einzuschätzen ist. Der „geschworene Doktor der Heiligen Schrift“ hat die moderne wissenschaftliche Bibelforschung wie kein anderer theologisch vorbereitet

Der reformatorische Ansatz läßt nicht nur alle Gottesbegründung aus Seinsmodellen und Bewußtseinsstrukturen hinter sich, sondern nimmt im Grunde schon die Anfragen des Nihilismus und auch des Existentialismus vorweg und begründet den christlichen Heilsglauben durch ein existentielles Denken das Freiheit und Gewißheit jeweils neu zu erringen anstände ist Darum bedeutet „Reformation' immer auch stets die neue Infragestellung überkommener Lebens- un< Denkformen, und sie gibt sich aucl dann nicht geschlagen, wenn dii eigenen vorläufigen Gestaltungei sich als unzulänglich erweisen.

Damit hat der reformatorische Antrieb ganz allgemein die Wahrheitsfrage in unendliche Bewegtheit gesetzt, so daß die revolutionäre Kraft der abendländischen Wissenschaft und Forschung die beginnende Neuzeit zu prägen vermochte. Weder die moderne Geschichtswissenschaft noch

die Naturfofschung hätten sich, ohne den Hintergrund der refprmatori-schen Fragestellung nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit durchzusetzen vermocht, wobei zugegeben werden muß, daß das damit verbundene Freiheitsgefühl sich zeitweise nicht scheute, in nahezu selbstmörderischer Kritik an den eigenen Grundlagen sich an den Abgründen einer Selbstauflösung zu bewegen. Aber gerade so wurde die christliche Tradition durch jede neue Interpretation in das jeweilige Bewußtsein der Generationen eingebracht. Die Reformation ist der lebendigen Geschichte zugeordnet, in der die Stimme des „reinen Evangeliums“ in einem unaufhörlichen Angriff auf die jeweils verfestigten Positionen angesetzt ist Das Evangelium wird zur heilsamen Unruhe, zum mahnenden und läuternden Gewissen einer Welt, die sich allzugerne selbstzufrieden mit dem Gewordenen abfindet. Luthers großes Wort, daß das Christsein nicht im Gewordensein, sondern im Werden besteht, hat weltweite Horizonte für den Existenzvollzug der Menschen eröffnet. Daraus erklärt sich freilich auch, daß uns die Geschichte daneben auch das Bild einer eher beharrlich im Geruhsamen verbleibenden evangelischen Christenheit zeigt, da die motorische Energie des Reformationsgeschehens oft eine Uberforderung bedeutete, so daß harte Auseinandersetzungen zwischen restaurativen und modernen Bestrebungen zum Charakter des kirchlichen Protestantismus gehören.

Der Stachel im Gewissen

Die Befreiung des Gewissens von überkommener Bindung hat die Kraft vermittelt, die ethische Forderung unnachgiebig so sehr als Stachel im Gewissen einzusetzen, daß diese Wunde immer bluten muß. Es gilt weder Beruhigung noch Ausrede auf eine vorfabrizierte Verhaltensweise: Die sittliche Tat, durch die lutherische Rechtfertigungslehre von der Nötigung befreit, der Selbstbeglaubigung des Täters zu dienen, ist nur in der mündigen Freiheit des einzelnen zu verwirklichen. Auch hier sollen die damit gegebenen Gefährdungen nicht verschwiegen werden: Individualismus und Libertini-tät sind häufig Ergebnisse des protestantischen Wagnisses. Sie sind der bittere Kaufpreis für die einzig mögliche Weise menschlicher Selbstverwirklichung in Freiheit.

Dies wird wieder deutlich, wenn wir das Verhältnis des Christen sowie der Kirche zur „Welt“ betrachten. Die Spannung zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Satan,, zwischen Glaube und Unglaube geht für reformatorisches Christentum mitten durch den Christen und die Kirche

hindurch. Jede Aufspaltung der Welt in eine profane und sakrale Sphäre ist unerträglich: Es gibt nur eine Welt, die in ihrer Bedrohung durch das Böse erkannt, aber um des Glaubens an Christus willen zugleich als die gute Schöpfung Gottes geglaubt wird. Darum erklärt die Reformation Staat, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft für mündig, in eigenständig freier Verantwortlichkeit vor der Forderung Gottes existierend.

Aufbruch zur Union

Die lutherisch bestimmte Reformation kann nicht daran vorbeigehen, daß sie die zwinglisch-calvinisch bestimmte stets neben sich hat. Die Spaltung im eigenen Schoß muß von ihr als Belastung und Ärgernis empfunden werden. Von daher begreifen sich die leid volle Geschichte des Nebeneinander und die nicht abreißenden Versuche, zu einem Miteinander zu gelangen, wie etwa die gegenwärtig ihr 150jähriges Jubiläum begehende „Union“ in bestimmten deutschen Landschaften beweist. Im Zeichen der Ökumene bereitet sich heute eine neue Form der Annäherung vor. In wesentlichen Lehrfragen, darunter der einst so heftig umstrittenen über das Heilige Abendmahl, kommt es zu einem Konsensus, der die beiden großen kirchlichen Weltbünde enger als bisher aneinander rückt. In den eben abgeschlossenen amerikanischen und europäischen „Lutherisch-Reformier-ten Gesprächen“ unter der Ägide des Weltkirchenrates sind entscheidende Schritte zu einer lehrmäßigen Flurbereinigung getan worden, die die Intention in sich tragen, die besonderen Akzente der Lehrverschiedenheit fruchtbar in das gesamtökumenische Gespräch als konstruktive und motorische Kräfte einzubringen, ihnen aber eine kirchentrennende Funktion hinfort abzusprechen.

Entsprechend ihrem Grundsatz geht die Reformation unaufhörlich weiter und darf nicht stillstehen. Wenn einer ihrer Grundsätze, der von der „ecclesia Semper refor-manda“, heute von nahezu allen Kirchen in seiner Gültigkeit anerkannt wird, dann darf dies als heilsame Wirkkraft der Ereignisse vor 450 Jahren dankbar hingenommen und als Zeichen der ökumenischen Kraft der Reformation begrüßt werden.

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