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Wächter bewachen!

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Unter den kritischen Bemerkungen über den Koalitionsausschuß, wie sie die Nationalratsdebatten mehrfach aufklingen ließen, fielen die des oberösterreichischen Abgeordneten Dr. Weismann auf, der ein „Sittengesetz unserer demokratischen Republik“ vermißte und es — in der Verfassung suchte.

Aber — ist in unserer Verfassung ein Sittengesetz zu finden? Nachdrücklich vertreten findet sich das Gedankengut des Liberalismus, Republik und Demokratie sind fest verankert, auch der Föderalismus gilt wenigstens offiziell als Grundnorm — von dem aber, was man irgendwie Sittengesetz nennen könnte, findet sich keine Spur.

Eigentlich dürfte man sich darüber nicht sehr wundern: Der Redaktor unserer Bundesverfassung war ja Hans Kelsen, der nun in Los Angeles lebende weltbekannte Rechtsphilosoph und Völkerrechtslehrer, der kürzlich Wien einen kurzen Besuch abgestattet hat. Kelsen hat seit etwa 1910 eine „reine Rechtslehre" entwik- kelt und 1934 ein bedeutendes rechtsphilosophisches Werk unter diesem Titel herausgegeben. Er führte Karl Bergbohms Kampf gegen das Naturrecht zu Ende und damit den Rechtspositivismus auf einen Höhepunkt, von dem es nur noch einen Absturz gibt (und gab): Nach ihm ist Recht das und nur das, was eine sich regelmäßig durchsetzende Staatsmacht als Norm unter Androhung einer Zwangsfolge (Erzwingung oder Strafe) für den Fall der Nichtbefolgung festsetzt. Normen des Naturrechts, der Moral, der Sitte, sind nach dieser logisch scharf durchdachten Theorie eben nicht Recht, ja, sie gehören im Interesse der „Reinheit“ des Rechts aus dem Rechtsbereich entfernt.

Die „reine Rechtslehre" sagt nun zwar nicht, daß Naturrecht und Moral im staatlichen Bereich keine Rolle mehr zu spielen haben; sie läßt die Möglichkeit offen, daß der Staat, daß die Staatspolitik, daß die Staatspolitiker Verfassung und Gesetze mit naturrechtlichem, moralischem, sittlichem Inhalt erfüllen. Der Inhalt selbst, meint diese Lehre, hat ja mit „Recht“ (in diesem engen formalen Sinn) nichts mehr zu tun: Der Jurist ist den weltanschaulichen, oder wie man heute lieber sagt, ideologischen Auseinandersetzungen enthoben!

Daß der Jurist dafür den Staatspolitikern ausgeliefert ist, zeigte die nationalsozialistische Ära. Hier war eine Staatsgewalt gegeben, die sich regelmäßig, und zwar sehr massiv, durchsetzte. Der überzeugte positivistische Jurist konnte daher guten Gewissens das „Recht“ dieses Staates vollziehen. (Der marxistische Staat von heute bedient sich, wie man leicht ver stehen wird, des gleichen Rechtsbegriffes, so zum Beispiel Hermann Klenner in „Der Marxismus-Leninismus und das Wesen des Rechts" (Berlin 1954,

S. 88!).

Nach dem Krieg war aus verständlichen Gründen diese „reine Rechtslehre“ etwas in Mißkredit geraten, und die meisten Rechtslehrer machten sich Gustav Radbruchs „Formel“ zu eigen, die sich dieser Vertreter eines wertfreien Rechtsbegriffes für solche Verhältnisse zurechtgelegt hatte: Wenn der Widerspruch zwischen positivem Recht und „Gerechtigkeit“ ein „unerträgliches Maß“ erreicht, dann hat das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der „Gerechtigkeit" zu weichen!

Diese Erfahrungen liegen aber lange zurück, und so feiert der Rechtspositivismus da und dort recht fröhlich Urständ — dabei soll die Neuherausgabe der „Reinen Rechtslehre“ nicht einmal in diesem Sinne gewertet werden. Die Schüler gehen dabei über den Meister weit hinaus: Sie wollen das von Johannes Meßner so meisterhaft, gründlich und ausführlich verteidigte „Naturrecht“, sie wollen Moral, besonders christliche Moral und Sitte nicht nur vom Rechtsbegriff ausgeschlossen wissen, sie wollen im Schwünge ihrer Methodenreinigung auch gleich den Inhalt der Gesetze von Moral und Sitte „reinigen“. In diese Richtung weist schon das neugefaßte Adoptionsrecht, wenn es einem Vater gestattet, sein voreheliches Kind in seine eheliche Familie hinein „an Kindes Statt“ (!) anzunehmen, ohne seine ehelichen Kinder auch nur hören zu müssen, wenn die nunmehr zugelassene Inkognito-Adoption Vertragsrecht über das natürliche Mutterrecht stellt, wenn die Herabsetzung des Alters die von anderen Staaten gefürchtete Deckung von Konkubinaten möglich macht, ohne daß etwa der Vater des „adoptierten“ Mädchens später dagegen ein- schreiten könnte. Diese Tendenz finden wir auch in Teilen der geplanten Strafrechtsreform, wenn sie gewisse Tatbestände von Homosexualität straffrei stellen, wenn sie die Abtreibung, selbst die gewerbsmäßig ausgeübte (nach dem Entwurf wäre gewerbsmäßig nur das getan, wovon man überwiegend seinen Lebensunterhalt bestreitet!) praktisch straflos machen, wenn sie die Züchtigung eines Lehrlings milder als boshafte Tierquälerei behandeln will usw. Und nach der Strafrechtsreform soll eine „Modernisierung“ des Familienrechts vorbereitet werden — wird sie nicht auch wieder eine „Reinigung“ von Moralbegriffen des alten ABGB bringen?

Bei dieser Sachlage wird der Natio- nalrat also vergeblich ein Sittengesetz ;n der Verfassung suchen. Und doch berührte die Anfrage ein echtes Problem-: die staatliche Sanktion allein wird den Bestand des Rechtes nicht sichern können. (Prof. Verdroß hat in seinem Lehrbuch der abendländischen Rechtsphilosophie unter Verwendung des aus einem anderen Bereich stammenden Wortes ..Quis custodiet custo- des?“ [Wer wird die Wächter bewachen?] eindringlich vor diesem Irrglauben gewarnt.) Ohne die tragende Säule der Moral wäre es um Recht und Staat schlecht bestellt. Darum auch fordert der Staat von jedem gewählten und ernannten Organ einen Treueeid, also eine moralische Verpflichtung! Es wäre eine echte und hohe Aufgabe des Nationalrates, Verfassung und Gesetz mit einem Inhalt zu erfüllen, der die Grundprinzipien des Naturrechtes nnd der Moral mit entschließt! Wo aber positivistische Juristen das bestehende Recht von der Moral „reinigen“ wollen, da müßte der Nationalrat (und er könnte das über alle Parteien- und Koalitionsgrenzen hinweg!) auf seiner ureigenen Aufgabe als Gesetzgeber bestehen. Hier könnte er den Positivismus mit seiner eigenen Waffe schlagen und seine Vertreter in den „reinen Rechtsbereich“ zurückweisen — auch wenn es sich um sogenannte Justizgesetze handelt!

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