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„Wahrheit”

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Die Verlagerung des gesamten philosophischen Gesichtspunktes vom Objekt zum Subjekt, wie sie seit der Renaissance bis in die Gegenwart der menschlichen Gedankenentwicklung maßgebend war, hat in geradezu erschütternder Weise auch zur Auflösung und Zersetzung, ja zur Vernichtung des Wahrheitsbegriffes geführt. Die Pilatusfrage: „Was ist Wahrheit?” endete mit einem echt pilarischen Achselzucken und „Händewaschen in Unschuld”. Die allgemeine Skepsis — ob die vornehme im Salon oder die grobe im fuhrwerklichen Alltag — erzeugte jene verhängnisvolle Situation, die einzig von praktischen Nützlichkeitserwägungen beherrscht wird, gleichviel ob die Spieler Einzelmenschen oder Gruppen mit gemeinsamen Standesinteressen oder ganze Rassen und Völker sind. Die Wahrheit geht an den Nutzen über und der Nutzen wird die wahre Wahrheit. William James mit seinem: „Wahr ist, was mir nützt”, Friedrich Nietzsche mit dem Satz: „Die Falschheit eines Urteils ist mir kein Grund dagegen”. Hans Vaihinger, der mitten in seiner Fiktionen- weit meint, man müsse ebenso tun, „als ob”; sie alle und die Unzahl jener relativistischen „Nurpraktiker” des Utilitarismus vollzogen einen Schluß, der sie selber in den Konkurs der Wahrheit hineinzog; die Prämissen waren freilich längst dazu bereitgestellt.

Zum geistigen Wiederaufbau wird nichts so notwendig sein, als zur Wahrheit zurückzukehren, zur Wahrheit mit ihrem gesamten objektiven Zwangscharakter, auch wenn sie dem freiheitstrunkenen, subjektivistisdien, sogenannten „schöpferischen” Menschen die angemaßte Göttlichkeit zu einem bescheidenen Dienen herabsetzt. Es gilt den Eigenbereich “der Wahrheit zu entdecken, ihren Wert, ihre wirkende Kraft, ihren Ursprung, ihr Erzeugtwerden und ihr Wachsen im mütterlichen Schoß menschlichen Geistes zu erfassen — einen Fragenkomplex zu erkennen und zu durchdenken, der von ungeheurer Tragweite für das ganze existenzbedrohte Menschenleben sein wird. Die Wahrheit wird in erster Linie nicht erschaffen, sondern erkannt, sie wird nicht souverän hervorgebracht, sondern demütig empfangetf (cognoscere nasci), sie ist zunächst nicht stolze Beute, sondern freudig empfangenes Geschenk. Das aber erfordert Hingabe. Und das ist das Heillose: der subjektivistische Mensch kann und will sich nicht ehrfürchtig hingeben, weder an die Sachen noch an die Ursache aller Sachen. Mit der Dienstkündigung an Gott erfolgte auch die Kündigung an die Dinge. Diese hätte eine Herrschaft des Menschen über die Welt werden sollen und wurde — ganz ungewollt — die Herrschaft der Welt über den Menschen. Das richtige geistige Wort über die Wahrheit führt aber zum Ursprung und zum Richtmaß zurück.

Hans Urs v, Balthasar, der bekannte Schweizer Essayist, hat mit seinem Buche „Wahrheit” — er nennt es selber einen „Versuch” — mit der ganzen Spradigewalt, der er als geistvoller Künstler und Übersetzer fähig ist, das Problem Wahrheit aus letzten Tiefen heraus gepackt und dem modernen Menschen vor Augen gestellt. Er will „entsprechend der stets veränderten Blick weise der Zeit”, der „besten Tradition des christlichen Denkens” zwar folgend, doch „eine neue Anpassung des geistigen Auges” gewinnen. Die Untersuchungen sind in zwei Teile gegliedert, wovon der erste die Wahrheit behandelt, wie sie uns zunächst in der Welt begegnet als die Wahrheit der Dinge und des Menschen, eine Wahrheit, die letztlich auf den Schöpfer zurückweist; der zweite Teil wird die Wahrheit behandeln, die Gott uns von sich selbst durch Offenbarung kundgetan hat und die in ihrem Offenbarsein zur letzten Norm aller weltlichen Wahrheit wird. Der erste, vorliegende Teil beschäftigt sich mit der Wahrheit in der Philosophie, mit phüosophischen Methoden. Vier große Kapitel: Wahrheit als Natur, als Freiheit, als Geheimnis und als Teilnahme büden die Skala, auf der die reiche Gedankenreihe aufsteigt. Entsprechend der modernen Philosophie hebt der Verfasser, methodisch richtig, beim erkenntnisfähigen Subjekt an, dem die Wahrheit als enthülltes und in seiner Enthüllung begriffenes Sein innewohnt. Wahrheit ist Erkanntsein, das Sein im Selbstbewußtsein ist die Gegenwart eines Seienden als eines bereits Seienden. Vielleicht dürfte der Autor hier einiges schärfer in die Kanten hobeln, besonders wenn er die Rolle des messenden Subjekts austastet. Prachtvoll zeigt er das Offensein des aufnehmenden Subjekts als eine Vollkommenheit, als ein „Immer- je-sdion-Bcschäftigtsein” mit der umgebenden Welt, das aber zunächst durch das objektive Sein genormt ist. Schillernd ist, was Seite 42 .über aktive Potenz und die Bereitschaft, gleichsam alles zu werden, als Eigenschaft der Vernunft gesagt wird; auch was über die Grade der Wahrheit bemerkt wird, ist in den öfter geschmähten Handbüchern klarer gesagt (es ist, nebenbei bemerkt, von einem „Handbuch” nicht mehr zu erwarten, als es seinem Handbuchzweck entsprechend eben leisten kann). Die teüweise Objektaufnahme der unendlichen Wahrheit begründet dem Verfasser eine gewisse Relativität der Wahrheit als Besitz, wobei aber nicht zu vergessen ist, daß, was formell wahr ist, eben Wahrheit ist, auch wenn es nur ein Teil, vielleicht sogar ein kleiner, alles Erkennbaren an ein und demselben Gegenstand ist. Hier gibt es keine Grade der Wahrheit, sehr wohl aber materiell, und zwar dem Umfang und dem Inhalt nach. Dies müßte dem leichtflüssigen Wahrheitsbegriff schärfer entgegengehalten werden, sonst besteht die Gefahr, daß selbst die Wahrheit der unveränderlichen und notwendigen Dingwesenheiten ins Wanken gerät (cf. p. 53). Sätze wiei „So sind die Dinge jeweils mehr, als sie selbst sind” (p. 54) und: „Denn gerade sein Wesen ist das, was existiert, was infolgedessen von der Veränderung nicht unberührt bleibt” bedürfen sicher einer weiteren Klarstellung. Wie schön und überzeugend schreibt indes der Verfasser: „Jede Abweichung von der genauen Wiedergabe des Sachverhaltes ist auch eine solche von der Wahrheit. Der erkennende Geist hat nicht die Aufgabe, sich eure Welt zu erfinden, die vielleicht schöner und besser wäre als die bestehende. ET hat zu sagen, was ist” (p. 79). Freilich „denken” heißt dann ..das Erkannte fügen, mit ihm bauen”, der Verstand ist der A r c b i • tekt sogar. Hier tritt eine allerdings relative, schöpferische Tätigkeit in Funktion. Aber nur gesichertes, festes, keineswegs flüssiges Erkenntnismaterial kann zum soliden Bau Verwendung findgn. Das große Kapitel „Wahrheit als Freiheit” ist vor allem in der Darstellung „Die Freiheit des Objekts” reichlich in, wenn auch sehr schönen Metaphern. Sache der (pritik ist es auch, aut Sätze hinzuweisen, die im edlen Strome des Gedankens, besonders wo er so reichlich fließt wie hier, untergründig mitschwimmen, indes leicht mißverständlich sind: „Keinen Fehlenden heilt man dadurch, daß man seinen Blick auf seine Fehler lenkt” (p. 123). „Nur in der Schau des Idealen wird er überhaupt fähig sein, Reue über das Reale zu empfinden” (1. c.), beim „freien Ermessen, sich an der Gestaltung der Wahrheit mitzubeteiligen” (p. 129), erwartet man ein schärferes Wort über Wahrheit als Verpflichtung Gewiß, die Wahrheit kann nicht anders als in Freiheit verwaltet werden, aber gibt es eine menschliche Freiheit ohne Verpflichtung? Wird sie nicht besonders drängend dort, wo es um Wahrheit geht? Reich und schön strömt die Rede des Verfassers, wo er über „Liebe und Wahrheit” spricht, wenn auch zu den Ausführungen über Wahrheit ohne Liebe und Liebe ohne Wahrheit (p. 132 ss) Reserven zu machen sind. „Innerhalb der Liebe kann ein formaler Irrtum nicht schaden” (p. 133) ist mißverständlich. Liebe ist „Liebe zu etwas” und verlangt selber Objektnormierung. Trotz aller Liebe und bester Absicht ist ein error parvus in initio, pessimus in fine geworden. Das Geheimnis der Wahrheit (III. Kapitel) führt auf neuem Bogen, vom konkreten, durchbluteten Dasein ausgehend, über die Welt der Bilder und Zeichen, enthüllend und verhüllend, zu Wahr, Gut und Schön. Die Sinnbilder zeigen dem Sinnfragenden den Sinn der Dinge. Auch das Wort gehört zu ihnen. Es handelt sich um unsere Wege zur Wahrheit, die, mögen sie auch mehr oder wenig gut sein, nicht an der Gesinnung der Wahrheit verzweifeln lassen, aber doch ob ihres zwielichtigen Charakters große Sorgfalt verlangen. Die Wahrheit ist zum mindesten ebenso Offenbarung wie Geheimnis. Das Schlußkapitel „Wahrheit als Teilnahme” bezeugt es. Daß der sprachgewaltige Autor über Geborgenheit in der Wahrheit sowie über verpflichtendes Bekenntnis des Wahrgewonnenen Worte von geradezu dichterischer Schönheit findet, macht die Lektüre, die zum Weg in die anbetungswürdige Höhe der göttlichen Wahrheit wird, zum reichen Genuß läuternden Gewinn.

O Mensch, wohin? Roman von Alma Holge r s e n. Verlag Benzi’ger, Einsiedeln 1948. 400 Seiten.

Wie in ihrem Roman „Die Großstadtlegende” setzt sich die österreichische Dichterin auch hier mit den Problemen des letzten großen Krieges auseinander. Sie zeigt die seelischen Auswirkungen dieser furchtbaren Zeit an den Schicksalen einiger Menschen in einem Tiroler Bergdorf. Jeder einzelne von ihnen ist gleichsam der Vertreter einer bestimmten Lebenseinstellung und muß sich seinen eigenen Weg durch die Wirren der Zeit suchen. Zwei junge Frauen, deren Ehen durch Tod und innere Entfremdung zerstört werden, ein Bauer, der fest in seinem katholischen Glauben wurzelt, und eine politisch fanatisierte Lehrerin sind die Hauptträger einer Handlung, in der das äußere Geschehen nur den Rahmen für die inneren Kämpfe, für die Auseinandersetzung mit dęr brutalen Macht und mit der Ausweglosigkeit des Daseins bildet. Der gläubige Bauer Luis und die gottferne junge Frau Susanne müssen sich trennen und sind doch eins in dem gemeinsamen Suchen nach Güte und Gerechtigkeit. Man muß an diesem Roman den echten sittlichen Ernst, die scharfe Charakterisierung der Personen, besonders der Frauen, sowie die mutige Offenheit, mit der die menschlichen Zweifel und inneren Gefährdungen aufgezeigt werden, anerkennen. Daß er trotzdem einen zwiespältigen Eindruck erweckt, hat seinen Grund darin, daß die einzelnen Teile dichterisch sehr ungleichwertig sind und der Versuch, Seelisches in einer Sprache von oft sehr eigenwilliger Bildhaftigkeit auszudrücken, nicht immer geglückt ist. Die Überhäufung mit psychologischem Detail läßt die klare Linie der Handlung zu wenig hervortreten. Auch die religiösen Fragen, um die es hier geht, werden oft abgebogen und nicht mit klarer Entschiedenheit beantwortet.

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