6748900-1967_19_03.jpg
Digital In Arbeit

Wandelnde Bedingungen

Werbung
Werbung
Werbung

Es liegt mir völlig fern, das Gewicht einer historischen Vorentscheidung, oder — um es rundweg zu sagen — „Vorbelastung“, wie sie im Falle des Verhältnisses des Marxismus zum Atheismus zweifellos vorliegt, auch nur im geringsten zu unterschätzen. Dennoch glaube ich, daß sich die Frage, zumindest in dieser abstrakten und allgemeinen Form, nicht definitiv, sozusagen ein für allemal, mit einem klaren „Ja“ oder einem ebenso klaren „Nein“ beantworten läßt. Es scheint, daß sich für diese Anschauung, die nichts mit begrifflicher Unscharfe oder gar Ausflucht zu tun hat, sowohl von einer christlichen wie von einer marxistischen Position aus durchaus einleuchtende Gründe anführen lassen. Gerade als Christ darf man die Möglichkeit einer Veränderung nicht von vornherein ausschließen und die Hoffnung, daß selbst antireligiöse Bewegungen an der Wirklichkeit konkreten Lebens ihr Korrektiv finden werden, ist ein Teil der integralen christlichen Hoffnung. So kann man — gemäß der berühmten und viel zitierten Enzyklika „Pacem in terris“ — „... falsche philosophische Theorien über die Natur, den Ursprung und das Ziel der Welt und des Menschen nicht mit geschichtlichen Bewegungen identifizieren, die für ein wirtschaftliches, soziales, kulturelles und politisches Ziel begründet wurden, auch wenn solche Bewegungen in diesen Theorien ihren Ursprung haben und daraus auch noch inspiriert sind. Eine einmal fixierte und formulierte Doktrin ändert sich nicht mehr, während Bewegungen, die konkrete und sich wandelnde Lebensbedingungen zum Ziel haben, durch deren Entwicklung weitgehend zu beeinflussen sind.“

Nun gibt es im Bereich des Marxismus in der Tat eine sehr tiefgreifende Umwälzung, deren volles Ausmaß noch nicht annähernd abzuschätzen ist, die jedoch — zumindest bis jetzt — vor der Frage der Religion und des Atheismus haltmacht. Anderseits schließt die Tatsache, daß die Marxisten durchwegs Atheisten waren und auch heute noch sind (einschließlich der östlichen Revisionisten, die in diesem Punkt mit den Orthodoxen weitgehend übereinstimmen), keineswegs die Möglichkeit aus, daß der Marxismus, und zwar unter dem Einfluß der in der Enzyklika erwähnten konkreten und geschichtlichen Lebensverhältnisse, auf die er (und gerade er!) auch als Theorie in letzter Instanz bezogen ist, seine Haltung gegenüber der Religion revidiert.

Solche Erwägungen mögen reichlich spekulativ erscheinen; dennoch gibt es für sie ganz bestimmte, reale Anhaltspunkte, die besonders bei den jüngsten Gesprächen zwischen Christen und Marxisten, wie sie zum Beispiel im Rahmen der Paulus-Gesellschaft stattfanden, sichtbar wurden. Dieser Dialog, der wie jedes echte, geistige Faktum, trotz möglicher Rückschritte unwiderruflich ist, scheint heute mehr und mehr zum konkreten Bezugsrahmen zu werden, innerhalb dessen die Frage nach dem Verhältnis von Marxismus, Religion und Atheismus, jenseits aller banalen Selbstverständlichkeiten, neu gestellt wird. Allein schon die Tatsache, daß für viele denkende Marxisten der Atheismus aufgehört hat, eine Selbstverständlichkeit zu sein, ist ein Novum, wenn man damit die Haltung ganzer Generationen früherer Marxisten der Religion gegenüber vergleicht. Was heute, besonders in Kreisen westlicher intellektueller Marxisten, in Frage steht, ist nicht mehr und nicht weniger als der gesamte Komplex der „klassischen“ marxistischleninistischen Religionstheorie, die — einem Wort des italienischen Kommunisten Salvatore di Marco zufolge — heute weitgehend unzureichend ist, „um ein lebendiges, kritisches Verhältnis zur modernen Entwicklung der religiösen Erfahrung herzustellen“. Die Entwicklung des Dialogs zwischen Katholiken und Marxisten werde daher einen neuen Anreiz erfahren, wenn der Marxismus auf der Ebene einer theoretischen Vertiefung diese Postulate (der Leninschen Religionskritik) überwinden kann. Diese Auffassung deckt sich weitgehend mit jener, die Palmiro Togliatti 1963 in einer Rede geäußert hatte: daß nämlich die klassische marxistische Religionskritik, als typisches Produkt der Aufklärung des 18. und des Materialismus des 19. Jahrhunderts, die Prüfung der Geschichte nicht bestanden hat: die Wurzeln religiösen Bewußtseins lägen tiefer, die Realität sei viel komplexer, die Umformungen gingen in ganz anderer Weise vor sich, als man damals angenommen habe.

Eine Entwicklung in Richtung einer weiteren Entideologisierung und Entdogmatisierung des Marxismus, die seiner kritischen Funktion keinen Abbruch täte, sondern, ganz Im Gegenteil, sehr zugute käme, liegt somit durchaus im Bereich des Möglichen. Freilich scheint eine solche Entwicklung an dem tiefeingewurzelten Vorurteil, religiöses Bewußtsein sei im Grunde doch entfremdetes Bewußtsein, auf eine vorläufige Schranke zu stoßen, die nur nach einer Klärung der Entfremdungsproblematik überwunden werden könnte.

Was nun den zweiten Teil der Frage anbelangt, so halte ich es hier mit Helmut Gollwitzer, der in seinem jüngsten Aufsatz im „Neuen Forum“ geschrieben hat, die offene Absage des Kommunismus an die Religion, seine Aufrichtigkeit (im Vergleich zu anderen, getamteren Formen des politischen Atheismus) sei, politisch gesehen, seine Torheit; denn sie hindere ihn bei der Gewinnung der religiös gebundenen Massen sowie dabei, die historisch erwiesene Korrumpierbarkeit der Kirchen für sich auszunützen. Genau hier liegt ja für den Marxismus die praktische Notwendigkeit, den Dialog mit den Christen zu suchen. Gewiß hat die Abkehr der institutionalisierten Kirchen von der kollektiven Hoffnung des biblischen Verheißungsglaubens besonders in den breiten Massen der Unterprivilegierten ein geistiges Vakuum erzeugt, in das dann der Marxismus als eine Art säkularisierter Heilslehre eindringen konnte. Insofern besteht also zumindest ein indirekter Zusammenhang zwischen Atheismus als innerweltliche Heilslehre und der Durchschlagskraft des Marxismus. Heute, da sich die Hochideologien in einem Zustand rapiden Abbaus befinden, ist jedoch der dezidierte Atheismus für den Marxismus eher ein Hindernis, in den nach wie vor religiös gebundenen Massen Fuß zu fassen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung