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Was soll die Menschen zusammenhalten?

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Aristoteles ist nicht der erste Denker in der politischen Ideengeschichte, der die menschliche und politische Bedeutung der Solidarität, des gegenseitigen Wohlwollens und Füreinander-Einstehens, erkannt hat. Aber der griechische Philosoph war der erste, der darüber systematische Erwägungen angestellt und der Solidarität -unter dem Titel der „philia", der Freundschaft - sogar eine konstitutive Funktion für die Gesellschaft zugeschrieben hat.

Interessant an Aristoteles' Konzeption - die hier natürlich ebenfalls nur schlagwortartig vorgestellt werden kann - sind zwei Punkte:

1. Solidarität erfordert äquivalentes Erkennen. Das heißt, der eine muß die Fähigkeit haben, den anderen in seiner Situation richtig zu „erkennen" und zu deuten, um sozusagen ihm und seinen Bedürfnissen auch wirklich gerecht werden zu können.

2. Voraussetzung für gelungene Solidarität ist die Möglichkeit zur Kommunikation. Die Wichtigkeit von Kommunikation leitet sich schon vom Wort „communis" her. Man kann natürlich vielerlei gemeinsam haben; am wichtigsten aber ist für Aristoteles die Gemeinsamkeit der Auffassungen über das Gute und Bechte. Diese Auffassung nennt er „geistige Eintracht" (was nicht gleichbedeutend ist mit gleicher Meinung über irgendeine beliebige Tatsache). Sie muß, sofern sie nicht nur Notwendigkeit ist, immer wieder neu gewonnen, artikuliert und bewußtgemacht werden. Um sie muß in einem aktiven Bemühen gerungen werden. Mit- und Füreinander herzustellen, ist eine anstrengende Aufgabe.

Hier zeigt sich übrigens, wie verflacht und des Inhaltes entleert in unserem heutigen Verständnis „Kommunikation" ist. Wirkliche Kommunikation bewirkt nämlich nicht bloß Übertragung von Informationen, sondern ein erarbeitetes „Sich-Ver-tragen"!

Auch heute wäre es wichtig, sich „das Wesentliche" im aristotelischen Sinn wieder bewußtzumachen. Was ist denn noch das Wesentliche, was uns Menschen verbindet? Ist es zum Beispiel nur mehr die Angst, die zu Solidarität förmlich zwingt? Die Angst beispielsweise vor dem islamischen Fundamentalismus, die Angst vor allem, was fremd ist? Soll uns nur die Angst vor dem totalen Klimakollaps zwingen, unseren Lebensstil zu ändern? Usw., usw.

Noch etwas lehrt Aristoteles: Es gibt ethische Werte und Forderungen. Und es gibt Menschen, die sich dieser Forderungen nicht nur bewußt sind, sondern sich auch Mühe geben, ihnen zu entsprechen.

Dieser Unterschied ist wichtig: „Wissen" ist noch nicht lange nicht „Tun". Solidaritätsappelle allein nutzen wenig. Das, wovon in ihnen die Rede ist - und darüber muß man sich via Kommunikation erst Klarheit verschaffen - muß in die Lebenspraxis auch umgesetzt werden. Aber wie?

Aristoteles ist natürlich klar, daß Solidarität zwischen zwei oder mehreren Menschen nicht so ohne weiteres auf lausende - in der heutigen Zeit wären es Millionen Menschen - übertragen werden kann. Dies wird nur möglich durch eine besondere Form der „ Gemeinsamkeit im Bewußtsein".

Es gibt bei ihm die spezifisch „politische Solidarität". Sie besteht in gemeinsamen Auffassungen einer Gemeinschaft darüber, was Becht und Unrecht, was das gemeinsame Wollen und der gemeinsame Nutzen ist. Dabei tritt Aristoteles nicht mit dem tönenden Pathos des Weltverbesserers auf, wie das heute üblich geworden ist. Er ist viel realistischer und weiß um die hohen Anforderungen einer gelingenden politischen Solidarität. Er ist sich darüber im klaren, daß sie nur unter „menschenfördernden", gleichsam solidaritätsför-dernden Verhältnissen gelingen kann. Diktatorische, aber auch gleichgültig- apathische Gesellschaften müssen diesbezüglich verändert werden. Denn schon Aristoteles steht - so wie wir heute - unter dem Eindruck einer durch Gewinnstreben und Machtgier entzweiten, aggressiven griechischen Gesellschaft. Das Nur- mehr-haben-Wollen führt zur Verhinderung menschlicher Sinnerfüllung und Tugendentfaltung der Bürger. Angst und Mißtrauen beherrschen sie und verhindern positives Miteinander in Eintracht.

Das Streben nach Beichtum und Befriedigung ständig neuer Bedürfnisse bildet einen fortwährenden Anlaß zur Unzufriedenheit. Die Gemeinschaft, so stellt schon Aristoteles bekümmert fest, ist durchtränkt vom Geist konkurrierenden Erwerbsstrebens. Aber zu den Grundsätzen einer recht geordneten Gemeinschaft gehört, daß die Bürger so befreundet untereinander werden wie nur möglich.

Das ist freilich nicht in erster Linie eine Sache der „ökonomischen Verhältnisse", auch wenn Aristoteles zum Beispiel eine gleichmäßige Vermögensverteilung für wünschenswert hält, damit Solidarität nicht durch wirtschaftliche Interessenkonflikte verhindert wird. Aber der eigentliche Grund für die gute Ordnung ist eine individuelle und sozialpolitische Verfassung der Bürger, die zum Handeln für das wechselseitige und gemeinsame Wohl motiviert.

Die Frage, die wir uns heute stellen müßten, ist ähnlich: Politik wird nur mehr verstanden als Erhaltung von Macht, Einfluß, Bessourcen und Verteilung von Steuergeldern, zunehmend entleert von ethisch-moralischen Vorstellungen. Daß eine solche Politik letztlich auch massiv auf die Bürger abfärbt, Solidarität verhindert, war schon Aristoteles bekannt ...

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