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WELT VON GESTERN - MYTHOS VON HEUTE

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Claudio Magris wurde 1939 in Triest geboren, studierte in Turin Germanistik und promovierte bei dem Kenner der österreichischen Literatur Leonello Vicenti 1962 mit einer Arbeit Ober Österreich: „II mito habsburgico nella literatūra austriaca", die 1963 in erweiterter Form im Verlag Einaudi erschien. Der Otto-Müller-Verlag in Salzburg brachte eine Übersetzung dieses Buches mit dem Titel „Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur" heraus. — Seit einigen Jahren lehrt Magris in Triest Germanistik und hat nach Studien über E. Th. A. Hoftmann und über die Robinsonaden des 18. Jahrhunderts vor kurzem eine Monographie über Johann Jacob Wilhelm Heinse in italienischer Sprache vorgelegt. Mit seinem Buch über die österreichische Literatur hat Magris in Österreich viele Diskussionen ausgelöst. An der Universität Salzburg wurde ein Seminar über seine Thesen abgehalten. Anfang April 1968 hat er in einem Vortrag über „Aktuelle Perspektiven der mitteleuropäischen Literatur", im Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für Literatur kulturelle Traditionen aufzuzeigen versucht, die in den Ländern der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie — unabhängig von den verschiedenen Sprachen — wirksam sind.

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Claudio Magris wurde 1939 in Triest geboren, studierte in Turin Germanistik und promovierte bei dem Kenner der österreichischen Literatur Leonello Vicenti 1962 mit einer Arbeit Ober Österreich: „II mito habsburgico nella literatūra austriaca", die 1963 in erweiterter Form im Verlag Einaudi erschien. Der Otto-Müller-Verlag in Salzburg brachte eine Übersetzung dieses Buches mit dem Titel „Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur" heraus. — Seit einigen Jahren lehrt Magris in Triest Germanistik und hat nach Studien über E. Th. A. Hoftmann und über die Robinsonaden des 18. Jahrhunderts vor kurzem eine Monographie über Johann Jacob Wilhelm Heinse in italienischer Sprache vorgelegt. Mit seinem Buch über die österreichische Literatur hat Magris in Österreich viele Diskussionen ausgelöst. An der Universität Salzburg wurde ein Seminar über seine Thesen abgehalten. Anfang April 1968 hat er in einem Vortrag über „Aktuelle Perspektiven der mitteleuropäischen Literatur", im Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für Literatur kulturelle Traditionen aufzuzeigen versucht, die in den Ländern der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie — unabhängig von den verschiedenen Sprachen — wirksam sind.

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Wenn, nach einem Wort Paul Valėrys, Mythos das ist, was nur im Wort existiert und folglich außerhalb des Verwandlungsvorgangs keine objektive Realität besitzt, so könnte man mit größtem Fug und Recht von einem habsburgischen Mythos in der Literatur nach dem ersten Weltkrieg und bei jenen Schriftstellern sprechen, die die österreichisch- ungarische Weit nicht mehr nach ihrem tatsächlichen Aussehen, sondern aus ihrer Erinnerung und Sehnsucht beschrieben. Wenige Staatsgebiide und Kulturen haben sich dem Gedächtnis so tief und unauslöschlich eingeprägt; und in den Augen der heutigen Generation scheint der Zauber des alten Österreich, wie er von Dichtern und Schriftstellern so überaus fein heraufbeschworen wurde, das tatsächliche Bild dieser Welt verdrängt zu halben, so daß die Donaumonarchie nun mehr das Reich Werfels, Roths oder Musils, als jenes der Staatsmänner Berchtcfld und Tisza ist. Der hafosburgische

Mythos ist also mit dem Zusammenbruch des Reichs nicht mit untengegangen, sondern damit erst in seine wirksamste, interessanteste Phase getreten.

Die Gründe für diese außerordentliche Vitalität und Zäh- lebigkeit eines erhabenen, mittelalterlichen Mythos, der sich seltsamerweise mit den kühnsten literarisch-technischen Neuerungen und den bestürzendsten stilistischen Prozessen (man denke nur an Musil) verknüpft, ohne sich dabei aufzulösen, ja, der dabei noch klarer hervortritt, sind vielfache. Das augenscheinlichste und einfachste Motiv, nämlich das Heimweh nach einer Welt, die zugleich mit der eigenen Jugend versunken ist und nun in der Erinnerung idealisiert „.wird, ist sicher nicht die wichtigste Komponente dieser — anachronistischen und zugleich drängend aktuellen — habsburgischen Präsenz in der Literatur unseres Jahrhunderts. Vor allem m uß einem spezifisch literarischen Umstand Rechnung getragen werden: wie aufgezeigt, hatte sich in den vorhergehenden Jahrzehnten ein richtiges Genre, ein literarischer Topos herausgebildet, der ursprünglich unter dem Einfluß bestimmter geschichtlicher wie soziologischer Umstände entstanden war, dann aber — sei es durch das Verdienst großer Schriftsteller, die diesem Genre Nahrung gaben, oder dank einer selbständigen Stilentwicklung — ein von seinen Entstehungsgründen unabhängiges Dasein führte und eigenständig fortlabte. Diese Strömung in der Literatur, die Werke von unzweifelhaftem dichterischem Wert hervorbrachte, hatte sich konsolidiert und die Bedeutlung eines überaus wichtigen kulturellen Phänomens erlangt.

Diese Tradition scheint nun von den Kriegsstürmen in keiner Weise erschüttert worden zu sein und labt, als Thema literarischer Inspiration und als Stil zugleich, nach dem Einsturz der österreichisch-ungarischen Welt fast unverändert fort. Fast unverändert, aber nicht ganz: es ist klar, daß die schwache Verbindung mit der Realität, die sie ehedem noch hatte, nun gänzlich wegfällt; dies beweist schon allein der Umstand, daß die Idealisierung der habsburgischen. Welt ohne die geringste weitere Entwicklung und ganz so, wie man sie übernommen hatte, in eine gänzlich andere Welt übertragen wurde. Es wurde schon gesagt, daß der Mythos seine, eigentliche Funktion überlebt hatte: aber nicht nur, wie dies verständlich wäre, im kraftvollen Wort großer Dichter, sondern auch in einer ganzen Reihe banaler, unbedeutender Werke. Die Schriftsteller geringeren Ranges und die Romanschreiber der literarischen Beiblätter schreiben also auch nach dem Krieg so, wie sie erzogen worden waren, und Ohne Erneuerung ihrer menschlichen wie stilistischen Persönlichkeiten. Hier fällt die verankerte literarische Tradition mit einem geschäftlichen Moment, den Modeströmungen der Literatur, zusammen. Die Flucht in die Sentimentalität, die den breiten Lesermassen so lieb ist, trägt gern habsburgische Züge: Wien und die Walzer, Husarenuniformen und die wunderschönen austro-slawischen Frauen Osteuropas, erzherzogliche Tollheiten und der untadelige Stil der Ober werden zu Lieblingsbildern der Volksträume, sei es, weil das wienerische Gemüt die Lebensfreude durch eine gutmütig-freundliche Familiarität abrundet, sei es wegen des Zaubers, der einer versunkenen, unwirklich und märchenhaft gewordenen Monarchie entströmt. Auch der Film beeilt sich, die alten Rezepte der Idylle und Operette zu verbreiten, indem er sich „diese einträglichen Spekulationen auf romantische Vergangenheitssehnsüchte“ zunutze macht, die von „Zwei Herzen im Dreivierteltakt“ bis zum „Walzerkrieg“, vom „Liefoeswalzer“ bis zum „Walzerparadies“ reichen und in Erik Charells reizender Geschichte eines hübschen Wienerkinds zur Zeit des berühmten Kongresses, „Der Kongreß tanzt“, gipfeln.

Das Publikum der verrückten, taumelnden zwanziger und dreißiger Jahre findet noch immer Freude und Vergessen an diesen Geschichten aus der Walzerzeit. Gleichzeitig reißen Kunst und Literatur ihre Verbindung mit der vorangegangenen Tradition ab und weisen damit auch die echtesten Werte jenes Menschheitsbilds zurück, dessen verzuckerte Oberfläche die kleinen, leichten Stücke nur wiedergeben. Und gleichzeitig stürzt sich Europa in seine furchtbarste Tragödie.

Während durch die Februarrevolte Wien in Blut getaucht wurde, blieb es doch die Bhäakenstadt wie seit eh und je und die illusorische Hauptstadt eines glücklichen Lebens; daran sollte nicht einmal der zweite Weltkrieg etwas ändern: die verschiedensten Prinzessinnen Sissi oder der gutmütige Dickbauch, der in keiner operetten'haften Erinnerung fehlen darf, wiederholen den Zauber Wiens der Zeit Kaiser Franz Josephs. Die eigentliche Literatur, die mit diesem Klischee merkwürdigerweise verbunden, wenn auch von unvergleichlich höherem Wert ist, geht ähnlich vor und verewigt das habsburgische Thema mit gleicher Ausdauer. So bringt die zweite Nachkriegszeit nicht nur die „Entdeckung“ Musils, sondern auch Doderers bis in die feinsten Schattierungen vom alten österreichisch-ungarischen Kulturgut durchdrungenen Erzählkunst.

Ein weiterer Grund für das Fortleben der alten österreichisch-ungarischen Motive könnte in einem allgemeineren Zug der zeitgenössischen österreichischen Literatur zu finden sein. Es ist symptomatisch, daß sich die österreichische Lyrik, grob gesprochen, zwischen 1920 bis 1925 und 1940, um allegorisch-religiöse Themen, eine vage Schollenmystik und das Mysterium des jahreszeitlichen Geschehens rankt. „Sichel am Himmel“, „Wir Bauern“, „Die frohe Ernte“, „Das verzauberte Jahr“ sind die Titel der Gedichtsammlungen jener Jahre. Sie bilden eine Art irrationale und mystizierende Abwandlung der Heimliteratur, das Lied von den dunklen Erdkräften, dem magisch-jahreszeitlichen Rhythmus und dem übermenschlichen, tiefwurzelnden Geheimnis des ländlichen Lebens. Diese Flucht wird von einem irrationalen Ton, gewissermaßen dem Echo der vielen „Seelen jahre“ der deutschen Dichtung, belastet, denn nichts anderes als eine Flucht bedeutet diese Schwärmerei für das Landleben in der gequälten österreichischen Republik eines Renner und Seipel, Dollfuß und Seyß-Inquart. Ebenso unbeirrbar erneuert Max Meili mit seinen Weihedramen, wie das „Apostelspiel“ oder das „Nachfolge-Christi-Spiel“ (1923, 1927) die mittelalterlichen Mysterienspiele. Und doch ersteht auf diesem Boden Josef Weinhebers Lyrik, wohl eine der höchsten sprachlichen Errungenschaften des europäischen 20. Jahrhunderts.

Neben, und 1m Gegensatz zu diesem Pol, österreichischer „Einfachheit“ entwickelt sich eine komplexe, ultramoderne Erzählkunst, die neuen Tätigkeitsbereichen — technischen, psychischen wie wissenschaftlichen — und neuen Formai- und Strukturdimensionen des Romans zugewandt ist. Es ist dies, wie schon eingangs gesagt wurde, der mitteleuropäische Ulysses, der gleich seinem irischen Bruder neue Wege des Lebens und der Literatur einschlägt und ausbaut. Von der psychiatrischen Komponente der Romane von Martina Wied bis zu den musikalischen „Scherzi“ von Franz Blei verflicht die österreichische Literatur den alten, barock-wienerischen Einfall mit den glänzendsten mystisch-wissenschaftlichen Errungenschaften, bis zu jenem komplexen, schichtförmig gelagerten Roman „Die Blendung“ (1935) von Elias Canetti, in dem der Wiener Dialekt für einen Augenblick zur Seelensprache der ganzen Welt wird. Mit diesen Werken steht man schon außerhalb des „halbsburgischen Mythos“; doch bezeugen sie, daß dieser Mythos in einer lebenspendenden, schöpferischen Metamorphose stirbt und zu neuen, dauerhaften Werten führt.

Die habsburgischen Erinnerungen konventionellerer Art könnten bis zu einem gewissen Grad diesem breiteren literarischen Rahmen eingegliedert werden. Um aber für das reizvolle, hartnäckig fortbestehende Bild Franz Josephs eine Erklärung zu finden, genügt keine literarische Einordnung allgemeiner Natur, nicht einmal dann, wenn für den Augenblick von den einzelnen Schriftstellern abgesehen werden soll und nur allgemeine Überlegungen getroffen werden. Auch die oberflächlichsten Erinnerungen an das Habsburger-Reich beseelt eine starke Wehmut, die sie beinahe über ihre Mittelmäßigkeit hinaushebt. Denn unter der vordergründigen Operettenwirkung, die die Phantasie in das Reich heiterer Erinnerungen lockt, liegt auch etwas Tieferes. Die österreichische Welt von gestern symbolisiert schließlich einen ganzen versunkenen Abschnitt der europäischen Kultur, die Belle epoque eines ehrwürdigen, sentimentalen und genießerischen 19. Jahrhunderts. In der wehmütigen Heiterkeit der Walzer beweint Europa seine verlorene Lebensfreude, die täuschungsreiche, freudige Vorkriegsjugend und die umgestürzten Mythen eines sanften, lieben Glücks. Die Erinnerungen an die Habsburger-Monarchie oder ganz einfach die Themen und Weisen jener Kultur, die in der Literatur Wiedererstehen, entsprechen vor allem dieser Sehnsucht nach der Belle epoque der Großväter und der goldenen Mediocritas des liberalen Zeitalters. Freilich verklärt die Zeit die von ihr verschluckten Dinge stets mit einer zarten, zauberhaften Patina, und freilich gibt es im Geistesleben ein ewiges erhaltendes Moment, den Blick zurück auf die Güter und Gefühle des Gestern. Doch war die habsburgische Welt für das europäische Empfinden zum eigentlichen Symbol dieser liebevollen, verklärenden Vergangenheitspietät geworden und hatte es, wie wohl kein anderes jüngstentschwundenes geschichtliches Gebilde verstanden, sich mit einer wirksamen Aura zu umgeben. Vielleicht spürte diese Welt die Zeichen der Auflösung darum so fein und versuchte sie auch darum so pathetisch zu verteidigen, weil sie als „Versuchsstation für Weltuntergang“ die Widersprüche und immanente Dialektik des kurzen Glanzes des 19. Jahrhunderts in paradoxester Weise in sich vereinigte. So konnte Ravel mit seiner Valse, mit der Anspielung auf die ironische Ambivalenz des Walzers — Symbol einer heiteren Zeit, die er in deren traurige Elegie verwandelte —, dem alten Vorkriegseuropa ein Totenamt halten. Und die heiter-wehmütigen Strauß-Walzer erzählen den Generationen der Jahre zwischen den beiden Kriegen von einer kostbaren, verlorenen Lebensfreude.

Die nationalen Gegensätze, die sich mit dem Zusammenbruch der Monarchie zuspitzen — und die unmittelbar bei Kriegsende in den österreichisch-ungarischen Truppen zum Ausbruch kommen — verstärken den alten, übernationalen habsburgischen Mythos und machen ihn sogar gewissermaßen aktuell. Ja, je unruhiger sich die europäische Situation gestaltet, desto stärker treten Trauer und Erinnerung an die alten k. u. k. Zeiten hervor. In der Tat entstehen die schwärmerischesten, leidenschaftlichsten Beschreibungen dieser Welt zu einer Zeit, da der Nazismus an Boden gewinnt oder sich schon festgesetzt hat, un.d sind größtenteils jüdischen Schriftstellern, wie Werfel oder Roth, zu verdanken. Gleichzeitig entstehen in diesen Jahren auch einige sehr bedeutende Entmythisierungsversuche, wie manche Romane von George Saiko, die, obgleich sie eine typisch österreichische Erzählweise verfolgen, doch einige der auffälligsten, von der k. u. k. Tradition herauskristallisierten Werte demaskieren. Noch weiter gehen die Theaterwerke von ödön von Horvath, die das Wiener Volksstück auflösen: man denke vor allem an ein Stück wie „Geschichten aus dem Wienerwald“ (1931). Diese Autoren überschreiten bereits den Rahmen dieser Untersuchung, doch ist es immerhin bezeichnend, daß ihre Andersartigkeit mit einer noch bestehenden Verkennung ihres Werts vergölten wird, der — besonders bei Horvath — wahre europäische Größe erreicht. Vielleicht beweist dieses Schweigen auf seine Weise, wie schwer es ist, vom habsburgischen Weg abzuweichen, dem die meisten Schöpfungen jener Jahre folgen.

Spontaner Einfluß einer schon verankerten Tradition, Flucht aus einer wirren Gegenwart, persönliche Verarbeitung und Verwandlung der eigenen Vergangenheit, also bemühen um die Klärung der eigenen geschichtlichen wie menschlichen Lebensbedingung: von dieser komplexen Verquickung aus Motiven und Ursachen geht der letzte Akt des habsburgischen Mythos aus. Dieser Mythos spielt auf einer sehr variierbaren Klaviatur, von Werfels Lobpreis bis zu Roths Pietät und Musils vernichtendem Sarkasmus; von der minuziösen Gesellschaftsanalyse bis zum flüchtig hingeworfenen Farbton oder Mülieruhintergrund, Jedenfalls schließt sich die Verwandlung der österreichisch-ungarischen Welt in den Werken dieser modernen Autoren, trotz der Zäsur eines Kriegs oder Zusammenbruchs, fugenlos an die ganze frühere habstourg che Tradition an. Musils k. u. k. Österreich, mag es auch ironievoll auf den Kopf gestellt worden sein, trägt noch viele Züge der Grillparzer- oder Hofmannsthal-Zeit. Erinnerung und Sehnsucht wirken als perspektivische Verjüngung und machen den Blick feiner und durchdringender, vor allem aber freier von äußeren Bedingungen. Zweifellos ist dieses postume Leben des Kaiserreichs das reichste an Zauber und Poesie, an glücklicher, klärender Erfassung seiner konkreten Wirklichkeit, und das reichste an märchenhafter Verwandlung; es ist am stärksten in die Verklärung des Mythos verwickelt.

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