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Werktreue als Utopie

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Die reine Erkenntnistheorie lehrt seit Kant, daß die Subjektivität beim Erfassen der Welt und der Dinge unausschaltbar ist. Und selbst die moderne Naturwissenschaft — wie etwa Heisenberg in der Physik, die doch mit den objektivsten Beobachtungen und Erkenntnismethoden arbeitet — hat diese Feststellung nur bestätigt. Wenn schon im rational-mathematischen Gebiete der Erkenntnis, in den Naturwissenschaften, das subjektive Element anerkannt werden muß, hier, wo das Zeichen der Zahl wie der Begriff eindeutige Anhalte geben, wieviel weniger ist die Subjektivität auf dem rational weit unbestimmteren Gebiete der Musik im Hinblick auf eine objektive, werkgetreue Interpretation auszuschließen! Und eben nicht nur die Subjektivität der Einzelpersönlichkeit ist es, die sich bemerkbar macht, sondern zugleich auch die subjektive Färbung, die der jeweilige Epochengeist mit sich bringt.

Auf dieser allgemeinen Erkenntnis baute seinerzeit meine Auseinandersetzung in der „österreichischen Furche“ („Werktreue und Erlebnis“) auf, und sie wollte eben die „Vorbedingungen“ der rein musikalischen Praxis klären, indem sie eine grundsätzliche, gleichsam erkenntnistheoretische und auch für die Musik gültige Feststellung vornahm. Frau Professor Ahlgrimm trat hingegen in ihrer Erwiderung an das Problem unter einem anderen Gesichtspunkt, nämlich unter dem der reinen Praxis, heran. Beide Betrachtungsweisen schließen sich nun aber nicht aus; der umfassendere Lebensvorgang des geschichtlichen Epochenwandels beeinflußt vielmehr die interne, praktische Ausformung und Wiederbelebung mit oder gegen ihren Willen. Denn, umreißen wir zu eindeutiger Klärung meinen Kerngedanken nodi einmal mit aller Deutlichkeit:

Selbst wenn wir mit aller Erkenntnis damaliger Aufführungspraxis alter Musik ausgerüstet sind und danach streben, letzte — dem Technischen unmittelabr verflochtene, auch geistige — Werktreue walten zu lassen, so ist eine solche zutiefst doch unerreichbar, da wir, Kinder unserer Zeit, nicht mehr Menschen von damals werden können. Dies aber wäre die unerläßliche Voraussetzung, die Aufgabe restlos zu erfüllen. Bei genauester Erfüllung aller gegebenen Vorschriften bleibt sie darum, bewußt oder unbewußt, eine Utopie! Eine gewisse „Annäherung“ kann bestenfalls erreicht werden.

Um etwa die Voraussetzung einer werkgetreuen, originalen Bach-Interpretation zu erlangen, müßten wir Menschen von damals werden. Das heißt, daß wir all das Bewußte wie Unbewußte, das zweihundert Jahre hindurch seit Bachs Tode die europäische Seele geformt, das Denken und Vorstellen beeinflußt hat, restlos über Bord werfen müßten. Die seelischen Erweckungen der Empfindsamkeit, des Sturmes und Dranges, der ganze Aufbruch der Gefühlskräfte, des Gemütes, der Phantasietätigkeit seit 1750, die ganze Umstellung zum modernen Menschen hin — übrigens eine Umstellung und Bereicherung, die im historischen Werden zweifelsohne eine der hervorstechendsten Seelen Wandlungen des abendländischen Menschen bedeutet —, die Geistigkeit des deutschen Idealismus wie der Französischen Revolution, die Geistigkeit des 19. Jahrhunderts, das Vermögen, instrumentale Klanglichkeit an sich als Wert — und in diesem hohen Maße — zu empfinden und anderes mehr, ja selbst die Erscheinungen und Einflüsse der Technik, die unser Leben und unsere Existenz und daher auch unsere Geistigkeit und Seele mitgeformt und verändert haben: sie alle müßten radikal getilgt werden, um die geistige Grundlage zu schaffen, mit der wir Bachscher Musik so wie er selbst und seine Zeitgenossen damals gegenübertreten könnten und damit die Gewähr hätten, eine vollgültige Originalinterpretation zu erzeugen. (Man wende hier nicht ein, was habe eine rein von der Technik vorstoßende Interpretation mit dem Gesamt des Menschen zu tun? Kunst und Mensch bleiben auch bei sachlichsten Wiedergaben eine Einheit, und der Mensch ist und bleibt das Fundament bei aller internen Unter

Daß diese Rückverwandlung nicht möglich ist, liegt auf der Hand, und ebenso wird deutlich, daß — beim höchsten Willen zur Objektivität — die Geistigkeit einer späteren Epoche Anteil an der Interpretation von Werken aus früherer Zeit haben muß, daß ein jeder Gegenwartsgeist „fordert“ und zwangsläufig mitgestaltet. Selbst also das ehrlichste Bemühen und die Berücksichtigung aller Hilfsmittel vermögen diese durch den Zeitgeist gesetzten Grenzen nicht zu überschreiten. Man kann graduell dem Vorbild näherkommen oder sich von ihm entfernen; voll treffen kann man es nie und nimmer. Die Erfüllung bleibt eine Utopie.

Ich rede also keineswegs „subjektiver Willkür“ der Persönlichkeit oder subjektiver Fahrlässigkeit das Wort, sondern ich spreche von Grundgegebenheiten des Lebens und des Lebendigen, des Menschentums und d v Geschichte, die selbstverständlich auch auf dem Felde der Musik ihre zwangsläufige Auswirkung haben.

Aber selbst im engeren Rahmen — um auf diesem beschränkten Raume auf einige Einzelheiten wenigstens einzugehen — ergeben sich durch die Verschiedenheit wie durch die Unwiederholbarkeit der Epochen-Haltungen Hindernisse, die an sich schon als nnübersteigbar gelten können. Sind wir heute noch fähig, die rationale Symbolik Bachs voll EU verstehen? Oder, wenn wir sie verstehen, vermögen wir darin noch „Hauptwerte“ zu erblicken? — Wohl kaum. Wenn wir hingegen wieder die kosmische Kraft des Badischen Tonstromes empfinden, an die er selbst zweifelsohne nie gedacht hat und die doch der lapidaren Größe seiner Werke einfach immanent ist, wird damit der Wert des Riesenwerkes vermindert oder nicht vielmehr erhöht, indem wir Meisterwerken ein „Mehr“ und „anderes“ aus unserem modernen Erlebnisfelde heraus entnehmen, als es zu Lebzeiten dieser Großen der Fall war? Ich persönlich halte an der Überzeugung fest, daß es gerade die Probe auf das Meisterliche des Meisterwerkes ist, daß es zu verschiedenen Zeiten immer wieder neue Seiten und Werte enthüllt und so immer erneut aus- unmittelbarstem und nicht nur historischem Erleben Tausenden Anschluß gewährt. Und die geschichtliche Tatsächlichkeit ist dess’ Beweis — allem reinen Historismus zum Trotz.

Was das Verhältnis von Komponisten und Interpreten in der Gegenwart angeht, so erweist es sich mitunter als sehr zweifelhaft, ob die Originalinterpretation und selbst die Original Vorstellung des Schöpfers eines Werkes die höchstmögliche Ausdeutung darstellt. Denn es gibt gültige Linien im Kunstwerk selbst, das nun „als eih Selbständiges“ und losgelöst von seinem Schöpfer lebt. Sie erfaßt in erster Linie die musikalische Hellsichtigkeit des Interpreten, so wesentlich auch gelegentlich ein Hinweis des Schöpfers zu sein vermag. — Doch diese und andere spezielle Fragen sind einer Diskussion unzugänglich, da das Lebendige — und das Schöpferische ist das Lebendigste des Lebendigen! — im einzelnen abstrahierenden Schemata sich nicht fügt. Wie weit das Feld abzustecken ist, möge ein extremer Fall an Hand von Mallarme lehren: als ein Schüler ihm darlegte, wie er eines seiner dunklen Gedichte auffasse, erwiderte der Meister: Ich habe an diese Auffassung nicht gedacht, aber ich finde sie so vorzüglich, daß ich sie von nun an adoptieren werde! —

Doch kommen wir nach diesen speziellen Abschweifungen nochmals auf das Hauptthema in Reprise zurück: die praktischen Erwägungen Frau Professor Ahlgrimms und die umfassendere Lebenssicht der Kunst schließen einander nicht aus: selbst eben das aufrichtigste Streben nach „letzter, objektiver Werktreue“, das die Künstlerin aus ihrer Perspektive berechtigterweise hat, entrinnt nicht den Forderungen und Einwirkungen der Zeit, die das Leben als solches und Primäres in seiner jeweiligen Epochengeistigkeit stellt und wirksam macht.

Mit dem vorstehenden Artikel möchten wir die Diskussion über das Thema „Werktreue“ abschließen. Das Interessante an dieser Aussprache bestand unter anderem darin, daß der Wissenschaftler, Dr. A. Ließ, für eine gewisse Freiheit der Interpretation eintritt, während die ausübende Künstlerin, Frau Professor Isolde Ahlgrimm, eine fast philologisch-strenge Werktreue befürwortete „Die österreichische Furche“

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