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Werktreue und Erlebnis

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Was ist die Aufgabe des Musizierens alter Kunst? — Soll sie für breitere Schichten erneut zum Erlebnis werden, wollen wir, den Historismus und seine Zonen wissenschaftlicher Entdeckerfreude durchschreitend, diese alte Musik auch für unser eigenes Lebensgefühl wirksam machen? Qder wollen wir uns mit der reinen Stiltreue der Wiedergaben begnügen, die, auch unter günstigsten Bedingungen technisch nachgeahmt, doch zutiefst problematisch bleibt. „Stil” bedeutet eben der musikalische Niederschlag einer „seelischen Haltung”, und wir vermögen selbst nie wieder zu Menschen des Barocks, der Renaissance, des Mittelalters zu werden. Auf der einen Seite steht das Anzielen der einen und einzigen Musik durch die verschiedenen Epochengewänder hindurch, die Fruchtbarmachung des Erlebnisses einer Musik von einst im Geiste unserer Zeit; auf der anderen die Auffassung, die Schering als die „museale” bezeichnet hat, der die Wiedergewinnung der klingenden Originalgestalt als vornehmste Aufgabe erscheint. In dieser Haltung „für Kenner und Liebhaber” bekennt sie sich zum ausgesprochenen L’art pour l’art, die wir endgültig überwunden glaubten.

Historisch verstehen wir wohl, daß nach den willkürlichen Bearbeitungen und der Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts der Ruf nach einer historisch zuverlässigen Gestaltung dieser Kunst ertönte. Heute scheinen wiederum die rational-wissenschaftlichen Forderungen nach Stiltreue das Aufführungsbild so überwiegend zu bestimmen, daß das eigentliche Erlebnis unserer Zeit zu kurz kommt. Unser Standort ist ja hier und jetzt. Die psychische Hauptfrage bei der Wiederbelebung ist aus der Natur der Dinge die: Was nehmen wir von der Vergangenheit in unsere Zeit, in unsere Geistigkeit hinein? In der Gegenrichtung können wir uns nur „verlieren , ob es sich nun um Bauwerke, Bilder, Musik oder um die Gedankenwelt der vergangenen Zeiten handelt. Kein Zweifel, trotz alles wissenschaftlichen Forschern wäre der Schrei nach Originalinterpretation in der Gegenwart nicht ertönt — das ist charakteristisch —, wenn nicht unser sachliches Zeitalter gerade die Verwandschaftlichkeit des eigenen Wol- lens mit den Formungen der vorindividualistischen Musik erspürt hätte. Aber verkennen wir nicht, daß bei aller Parallelität unsere Seelenhaltung doch eine grundlegend andere ist als die des Barockmenschen. Ich wage es auszusprechen: wenn wir heute meinen, den Original-Bach entdeckt zu haben, so ist dies eine Täuschung. Unsere objektivierende Zeitgeistigkeit, unser einzigartiges historisches Wissen um die Dinge der Vergangenheit, das keine Zeit vor uns besaß, führt uns näher an des Meisters Werk heran, als es dem 19. Jahrhundert möglich war; jedoch, scharf betrachtet, ist es eben der Bach unserer Zeit, den wir erfaßt haben.

Charakteristisch drückt dies aus, in welcher Weise Bachs Kunst das moderne Schaffen im Motorischen befruchtete. Die spezielle Geistigkeit seiner eigenen Zeit im Werke bleibt auch uns verschlossen, und keine noch so originale Wiedergabe wird sie heben. Wir vermögen als Menschen des 20. Jahrhunderts die Grenzen nicht zu überschreiten, die unsere Epoche geistig wie seelisch in ihrer Haltung zieht. Daß Bestrebungen zur original-getreuen Wiedergabe vorhanden sind, ist wesentlich und bedeutsam als ein Gegengewicht gegen allzu freie Willkür, nicht aber als absolute Tendenz, daß nämlich n u ( auf diese Weise Wert und Erlebnis dieser alten Kunst wiederzugewinnen sei. Gerade dies aber ist ein Irrtum.

Man muß bei diesem ganzen Fragenkomplex den Blick immer wieder auf das Wesentliche richten und die Musik jener vorklassigen Zeiten erleichtert die Antwort. Ihre Aufführungspraxis, ihr instrumentales Gewand, waren keineswegs eindeutig festgelegt wie dann später im 19. Jahrhundert.Schwerpunkt und Wert lagen in der rein musikalischen Substanz. Diese Tatsadie aber gibt uns Freiheit an die Hand. Handels „Largo”, Badische Klavier- werke und andere mehr wirken in erster Linie durch diese reine Substanz, die grund- sätzhch unabhängig vom farbigen Klanggewand ist. Gewiß bleiben hier mancherlei interne Fragen offen, und diese Feststellung heißt keineswegs jeder Willkür Tür und Tor öffnen. Hierin hat die historische Bewegung recht, daß man die historische Stiltreue, soweit dies möglich ist, zunächst auf ihre Wirksamkeit für unsere Zeit hin zu überprüfen hat, und es ist dies der rechte und richtig „technische” Ausgangspunkt. Aber es ist doch dann auch völlig abwegig, durch Anklammern an ein nie völlig zum Leben zu erweckendes altes Stilbild den Zugang zum zeitgemäßen Erlebnis geradezu zu erschweren. Wir haben das Recht, von unserer Zeit auszugehen und die völlige Freilegung des Erlebnisses für unsere besondere Geistigkeit und Seelenlage zu fordern, auch wenn sjch hiebei Retouchen und Annäherungen an gegenwärtige Musizierformen als notwendig herausstellen. Man darf also umgekehrt sagen: Es ist der Prüfstein eines großen Kunstwerkes, ob es die verschiedenen Umdeutungen, denen es im Laufe des Epochenwandels unterworfen ist, verträgt, ob es sein Leben weiterhin wirkend offenbart. Wenn wir noch so sehr der originalen Aufführungstreue entgegenstreben, die Zwischenjahrhunderte können nicht ungeschehen gemacht werden, sie klingen auch in das gegenwärtige Geist- und Musizierbild hinein — und sie fordern!

So stehen dem reinsten Willen zur Stiltreue immer wieder die Eigenheiten der geistigen Haltungen folgender Epochen, ihres Lebensgefühls und damit ihrer Ausdrucksgestalt in Formung und Interpretation entgegen. Reinste Stilinterpretation alter Musik ,ohne Eingehen auf die psychischen Forderungen unserer Zeit ,ist abgekapselte Fremdenerscheinung, ein museales Kuriosum. Denn die Brücke zu ihrer Gegenwacpwirk- samkeit bietet eben unser „Erlebnis”, das Forderungen und Fragen an die Dinge der Vergangenheit stellt. Der Weg ist vorgezeichnet: Die Vergangenheit muß zu uns kommen, nicht wir zur Vergangenheit! Und man darf den Satz J. Huizingas zitieren: „Historisches Wissen, das nicht seinen Resonanzboden und seinen Maßstab hat in einem persönlichen Geistes- u nd Seelenleben, ist tot und wertlos!” Es geht auch bei den musikalischen Bearbeitungen und Aufführungen nicht ohne Kompromisse ab, und es gilt auf verständige Weise, ohne die musikalische Substanz zu vergewaltigen, diese dem modernen Empfinden, seinem plastischen Verlangen anzupassen. Kleinlichkeit ist hier ebenso von Übel wie Willkür. Nicht nur als „Liebhaber”, als „Menschen” wollen wir dieser alten Musik gegenübertreten und ihr alle Erlebniswerte abgewinnen, die sie besitzt. Die L’art-pour-l’art- Haltung ist heute ein Rückzugsgebiet, das im allgemeinen Geist- wie Kunstbereich überwunden ist. Diese Tatsache beleuchtet wohl auch die Gegenwartssituation des musikalischen Historismus am treffendsten.

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