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Wie haren wir neue Musik?

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Alles Neue war und wird immer irgendwie umstritten sein. Auch im Falle der sogenannten neuen Musik, andere nennen sie zeitgenössische oder moderne Musik, will der Widerstreit -der Meinungen über Wert und Bedeutung von atonalen, poly-tonalen oder linearen Schöpfungen nicht zu Ende kommen. Diesen Widerstreit der Meinungen zu klären, die Ursachen von ebenso begeisterter Zustimmung wie unbedingter Ablehnung zu erforschen, soll in den nachfolgenden Zeilen versucht werden. Hiezu wird es notwendig sein, sich zuerst einmal darüber klar zu werden, wie wir Musik überhaupt hören, wie und wodurch Musik auf den Hörer wirkt.

Je nach dem Standpunkte, von dem die Untersuchung ihren Ausgang nimmt, wird man vielleicht zu anderen, wenn auch gewiß nicht völlig verschiedenen Ergebnissen gelangen. Eine nur musikalische Betrachtung, die des wissenschaftlichen Akustikers, oder aber eine Betrachtung vom historisch-entwicklungsmäßigen Standpunkte aus wird die Dinge in anderer Beleuchtung sehen als in der nachfolgenden Untersuchung, in der von psychologischen Erkenntnissen ausgegangen wird, ohne aber andere mögliche Standpunkte ganz außer acht zu lassen.

Es ist Tatsache, .daß nicht nur die leiblichen Organe des Menschen, sondern auch seine geistigen und seelischen Kräfte betätigt werden müssen, um nicht zu verkümmern. Dieses Verlangen nach Betätigung — nennen wir es Funktionsbedürfnis — wird um so stärker in Erscheinung treten, je öfter es bereits befriedigt wurde.

Im Falle der Musik haben wir es im allgemeinen mit einem dreifachen Funktionsbedürfnis zu tun: mit dem Funktionsbedürfnis der äußeren Sinnesorgane, das ist in diesem Falle des Ohres, mit dem Funktionsbedürfnis seelischer Kräfte und endlich jenem der verstandesmäßigen oder intellektuellen Anlagen. Auch im Falle primitivster klanglicher Einwirkung greifen diese drei Arten des Funktionsbedürfnisses, die wir auch sensuell, emotional oder intellektuell nennen können, irgendwie ineinander- Je nach der Anlage eines musikalischen Kunstwerkes wird das eine mehr das sensuelle, das zweite stärker das emotionale und ein drittes wieder vor allem das intellektuelle Funktionsbedürfnis anregen und dadurch befriedigen. Dazu ein Beispiel: Märsche und Tänze wirken gewiß nicht nur sensuell, sondern auch emotional. Eine Wirkung auf intellektuelle Kräfte wird in diesem Falle im allgemeinen an dritter Stelle stehen. Eine Bachsche Fuge wird sowohl das sensuelle als auch das emotional? und — durch das Kunstvolle ihres Satzes, allerdings nur bei geschulten Hörern — sehr stark auch das intellektuelle Funktionsbedürfnis befriedigen.

Mit diesen Beispielen ist Wesentliches gesagt oder doch angedeutet. Es kommt demnach auch darauf an, welches Funktionsbedürfnis der einzelne Hörer, seiner natürlichen Anlage nach, vielleicht auch seiner musikalischen Vor- oder Ausbildung entsprechend, vor allem befriedigt wünscht — befriedigt, ohne sich freilich in den meisten Fällen des ganzen inneren Vorganges bewußt zu werden. Musikgenuß ist und soll, Zumindestens nach älterer Auffassung, ein ganz unbewußter Vorgang sein. Zu einer Störung dieser Unbewußtheit kann es kommen, wenn der Hörer mangels an Schulung und praktischer Erfahrung rein sensuell, also schon beim Hören selbst, nicht mehr mitkommt. Dann bleibt selbstverständlich auch die emotionale Tiefenwirkung aus. Andererseits empfindet es der vor allem auf Befriedigung des emotionalen Funktions-bedürfnisses eingestellte Hörer als sehr störend, wenn sich ein Kunstwerk bewußt ganz sachlich gibt, wenn harmonische Zufallsbildungen als Folge bewußt linearer Stimmführung die gewohnten Hörkrücken der Kadenz, auch der erweiterten und verzögerten Kadenzbildung, vermissen lassen. Damit sind wir aber auch schon bei einer der ErkHrungen, warum so yiele Hörer die lineare Musik, wohl auch die atonale and die polytonale, rundweg ablehnen und in ihr eine Verfallserscheinung erblicken. Wir können es aber in einer, wie kaum zu leugnen ist, intellektuell fortgeschrittenen Zeit verstehen, daß die Zahl derjenigen nicht klein sein wird, die vermöge ihrer auch sonst vor allem intellektuell betonten Grundhaltung mehr Wert auf Befriedigung des intellektuellen Funktionsbedürfnisses legen als auf die des emotionalen. Es sind dies nicht, wie man manchmal behaupten hört, durchaus Narren oder Abnormale, die beim Anhören eines Kunstwerkes neuester Stilrichtung, etwa eines linearen, höchste Befriedigung empfinden, sondern eben vor allem auf Betätigung des intellektuellen Funktionsbedürfnisses betont eingestellte Menschen. Nicht die bei Bach oder den Klassikern, ebenso wie etwa bei Brahms oder Bruckner besonders starken, das emotionale Funktionsbedürfnis ansprechenden Kräfte sind es, sondern die Kunst des Satzbaues auch bei diesen Meistern ist es, was die Freunde neuester, etwa linearer Musik, beim Anhören der Werke der früher genannten Meister vor allem anspricht. Die Renaissance alter Musik, namentlich betont vielstimmiger, ist in unserer Zeit kein Zufall.

Mit diesen kurz zusammengefaßten Gedanken ist versucht worden zu erklären, warum der Widerstreit der Meinungen über Wert und Bedeutung sogenannter neuer, zeitgenössischer Musik nicht schweigen will. Man darf als Ergebnis der Untersuchung wohl auch behaupten, daß der Widerstreit der Meinungen ein Symptom der in unserer Zeit stärker als in den letztvergangenen beiden Jahrhunderten in Erscheinung tretenden seelischen und geistigen Strukturwandlung der Menschheit ist. Davon bleibt die Musik naturgemäß nicht unberührt. Übrigens scheint sich diese seelische und geistige Strukturwandlung, wie sowohl das neueste Werk so manches fortschrittlich-führenden Komponisten als auch die Reaktion der Hörer zeigt, neuestens auf musikalischem Gebiete wieder mehr einer Gesamthaltung zuzuwenden, die das emotional Wirksame — wenn auch nicht im hergebracht romantischen Sinne — stärker als noch vor wenigen Jahren betont, beziehungsweise beansprucht. Eine Frucht dieser neuesten Entwicklungstendenz ist eine sichtbare Vergrößerung der Zahl der Anhänger neuester Musik. Manche finden nicht nur darum zu ihr, weil sie ihre fortgeschrittene Schulung im Hören nun schon eher befähigt, rein sensuell mitzukommen, sondern vor allem darum, weil sie in dieser neuesten Musik auch — fast möchte man sagen wieder— eine Befriedigung ihres emotionalen Funktionsbedürfnisses finden.

Auch dieser kurze Blick auf die jüngste Entwicklungsrichtung neuer Musik und auf die sich ergebende Reaktion der Hörer bestätigt, daß es sich bei der Einstellung des einzelnen Menschen zum Kunstwerke immer wieder um die Befriedigung der Funktionsbedürfnisse handelt, daß das Für oder Wider davon abhängt, welches Funktionsbedürfnis der einzelne vor allem befriedigt wünscht-Haben wir das aber erkannt, dann werden wir die Müßigkeit des ganzen Streites verstehen und vorerst einmal jeden sich nach seiner Fasson, das ist gemäß dem ihm innewohnenden Wunsche nach Befriedigung eines bestimmten Funktionsbedürfnisses, an der Kunst erfreuen lassen.

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