6552667-1948_03_10.jpg
Digital In Arbeit

Wiedereinführung der Geschworenengerichte?

Werbung
Werbung
Werbung

Die Abschaffung der alten Geschworenengerichte war nicht zum geringen Teil in der damaligen allgemeinen Entwicklung zum autoritären Staat begründet. Wenn daher heute im Zuge der Wiedererrichtung eines demokratischen öffentlichen Lebens, auch der Ruf nach Wiedereinführung der Geschworenengerichte laut wird, so ist das nur natürlich. Denn das Institut der Geschworenengerichte gehört tatsächlich zum demokratischen Gedankengut. Es wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach französischem Vorbild in Österreich und in einigen deutschen Ländern eingeführt und sollte in erster Linie der Verwirklichung einer unabhängigen Rechtsprechung dienen. Der Berufsrichter war bis zum Jahre 1848 ein von der Regierung abhängiger Beamter gewesen; die Männer der Geschworenenbank waren dagegen von allem Anfang an Weisungen der Regierung nicht unterworfen.

Als dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die richterliche Unab- hängikeit verfassungsmäßig garantiert wurde, hatte eigentlich die Geschworenengerichtsbarkeit ihre wesentliche Sendung eingebüßt. Daran, daß man sie dennoch beibehielt, mag nicht zuletzt die Vorstellung mitgewirkt haben, die in dem Richter der alten Monarchie noch bis zu einem gewissen Grade den Staatsdiener sah, eine Vorstellung, die durch das äußere Bild der in Uniform amtierenden richterlichen Funktionäre nicht wenig bestärkt wurde. Tatsächlich entsprach diese äußere Erscheinung bei so manchen Richtern des 19. Jahrhunderts ihrer inneren Haltung. Doch die Riditergeneration um 1900 brach vollständig mit dieser Tradition. Sie vertauschte im Zuge der Kleinschen Gerichtsreform nicht nur äußerlich die Beamtenuniform gegen den Richter- talar, sie war auch innerlich tief von der Würde eines unabhängigen Richterstandes erfüllt. Die letzten zwei Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg waren so der österreichischen Richterschaft hohe Zeit, die wir Heutigen allerdings zum größten Teil nur mehr aus den Erzählungen unserer Väter kennen. Damals errangen sich die österreichischen Richter in hartnäckigen Kämpfen gegenüber der Justizverwaltung die Koalitionsfreiheit und gründeten die österreichische Richtervereinigung (1907), ein stolzes Merkmal ihrer unabhängigen Gesinnung.

Eine in soldier Tradition aufgewachsene Richterschaft unterliegt wohl nicht der Versuchung, die Unabhängigkeit, die sie für sich selbst in Anspruch nimmt, etwa den Laienrichtern zu sdimälern und auf sie einen ungebührlichen, insbesondere dem Angeklagten nachteiligen Einfluß ausüben zu wollen. Die Entwicklung der Geschworenengerichtsbarkeit in der ersten Republik hat vielmehr gezeigt, daß gerade durch die strenge Trennung der Geschworenenbank vom Richtertisch eine Entartung des Geschworenengerichtssystems gefördert wurde; die Geschworenengerichte hätten zweifellos niemals in solchem Grade versagt, wenn ihre Entscheidungen unter der Leitung von Berufsrichtern zustande gekommen wären. So aber war es — auch bei eindeutiger Sach- und Rechtslage —, insbesondere in politischen Prozessen, fast unmöglich, bei den Geschworenen einen Scbuldspruch durchzubringen. Diese Praxis zog eine weitgehende Verwilderung des politischen Lebens nach sich und trug an der tragischen Entwicklung der österreichischen Innenpolitik in der ersten Republik nicht unbedeutend schuld. Als Beispiel hiefür sei bloß an den unglückseligen Schattendorfer Prozeß erinnert, der den blutigen Aufstand des 15. Juli 1927 auslöste.

Meist war es nicht böser Wille, der das Zustandekommen eines gerechten Urteils hinderte, oft war schon die Schwerfälligkeit des ganzen Apparats allein an einer Fehlentscheidung schuldtragend, vor allem die Kompliziertheit der Fragestellung mit Haupt-, Zusatz- und Eventualfragen, die nicht selten den Berufsrichtern Schwierigkeiten bereitete, den ungeschulten Laienrichtern aber oftmals beinahe unlösbare Rätsel aufgab. So kamen viele Fehlurteile einfach dadurch zustande, daß sich die Geschworenen in dem komplizierten System der Fragen überhaupt nicht zureditgefundcn hatten.

Sehen wir aber von den durch das Fragenschema hervorgerufenen Schwierigkeiten ab, so muß man sich jedenfalls vor Augen halten, daß jede Rechtsprechung in der Anwendung eines Rechtssatzes auf einen konkreten Sachverhalt besteht und daher vom Richter nicht nur die Fähigkeit der Tatsachenfeststellung, sondern auch die Kenntnis des Rechtsstoffes verlangt. Beides ist dem Menschen nicht angeboren, sondern muß erst durch gründliches Studium und langjährige Praxis erworben werden. Die selbst von Juristen nur schwer übersehbare Rechtsfülle der Gegenwart läßt dies hinsichtlich der notwendigen Kenntnis der Rechtssätze wohl ohne weiteres verständlich erscheinen. Aber auch die Feststellung rechtserheblicher Tatsachen setzt eine Reihe von Kenntnissen juristischer, kriminalistischer, wie auch fachlicher Art voraus, für welche eine durchschnittliche Allgemeinbildung keineswegs ausreicht.

Diese Erscheinung ist durchaus nicht bloß auf die Rechtsprechung beschränkt. Das Leben ist vielmehr in den letzten Jahrzehnten auf allen Gebieten derart kompliziert geworden, daß wir überall des Rat- schläges des Fachmannes bedürfen, wenn wir eine richtige Entscheidung treffen wollen. Niemandem würde es heute einfallen, einen schwierigen Krankheitsfall ohne ärztliche Beihilfe oder eine bedeutende technische Aufgabe als Nichtfachmann zu lösen. Im Gegensatz zu dieser allgemeinen Entwicklung sollen nun im Strafprozeß über die Schuldfrage, von deren richtiger Beantwortung Leben und Tod des An|eklagten abhängen, künftighin wieder nur Laien entscheiden?

Eine solche Reform würde dem allgemeinen Zug der Zeit zuwiderlaufen. Die Aufgabe des Laienrichters besteht heute nicht mehr darin, die Unabhängigkeit des Urteils gegenüber einem von der Regierung abhängigen Beamten zu wahren. Er hat heute vielmehr an die Seite des unabhängigen Berufsrichters zu treten und dessen Aufmerksamkeit auf die allgemein menschlichen Seiten des Einzelfalles zu lenken. Während nämlich der Blick des Juristen in jedem Rechtsstreit vornehmlidi auf Erfassung der typischen Merkmale gerichtet ist, betrachtet der Laie jeden Fall in seiner besonderen Individualität. Auf diese Weise vermag er nidit selten die Wahrnehmungen des Berufsrichters nicht unwesentlich zu ergänzen und erheblidi zur Aufklärung des ganzen Sachverhaltes und zur vollständigen Würdigung des Angeklagten beizutragen.

Dies ist vor allem auch bei der Strafzumessung von wesentlicher Bedeutung; an ihr hat daher im Gegensatz zum alten Geschworenengericht der Laienrichter unbedingt mitzuwirken. Vermag doch erfahrungsgemäß der mit dem Leben intensiver verbundene Laie die Strafe oftmals weitaus gerechter auszumessen als der Berufsrichter, dessen Urteil durch die ständige Beschäftigung mit den kriminellen Entartungen des Soziallebens nicht selten getrübt und verhärtet ist.

Aus diesem Grunde erscheint es auch zweckmäßig, dem erfahrenen und prozeßgewandten Vorsitzenden einen jüngeren Berufsrichter als Beisitzer beizugeben, der mit Rücksicht auf seine geringere Praxis seinem älteren Kollegen zwar an Routine noch unterlegen ist, dafür aber meist noch ein offeneres Herz für das menschliche Einzelschicksal besitzt und so im Senat ein wertvolles Bindeglied zwischen dem Vorsitzenden und den Laienrichtern darstellt und das beiderseitige Verständnis wesentlich zu fördern vermag.

Die österreichische Prozeßgeschichte erweist uns klar, daß es heute nicht darum geht, ob Berufsrichter oder Laienrichter den Schuldspruch im künftigen Strafverfahren fällen sollen, sondern, daß die richtige Lösung nur in der einträchtigen Zusammenarbeit von Berufs- und Laienrichtern zu erblicken ist. Während nämlich das österreichische Geschworenengericht, das auf der strengen Scheidung von Richtertisch und Geschworenenbank aufgebaut war, gänzlich versagte, haben sich alle jene Verfahren gut bewährt, in denen Juristen und Laien in einheitlichen Senaten Recht sprachen; dies gilt nicht nur von der Schöffengerichtsbarkeit im Strafprozeß, sondern auch von den handelsgerichtlichen Senaten und der Tätigkeit der Arbeitsgerichte (Gewerbegerichte). Hier hat sich überall der Laienrichter als wertvoller Garant der Mitwirkung des Volkes an der Rechtsprechung bewährt und als wohltätiges Regulativ gegenüber einer lebensfremden Judikatur erwiesen.

So fordert die moderne Entwicklung der Laiengerichtsbarkeit überall ein intensives Zusammenwirken zwischen Berufs- und Laienrichtern. Auch eine Geschworenengerichtsbarkeit ist darum heute nur mehr als enge Zusammenarbeit zwischen Gerichtshof und Geschworenenbank denkbar, welche eine gemeinsame Urteilsberatung in der Form der Schöffengerichtsbarkeit voraussetzt. Nur auf diese Weise wird es möglich sein, die Vorzüge berufsrichterlicher und laienhafter Erkenntnis zu vereinigen und die Rechtsprechung zu Höchstleistungen zu führen, welche der Tradition der österreichischen Gerichte würdig sind.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung