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Worum ging es Michelangelo?

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Nicht mehr und nicht weniger behauptet der Wiener Privatgelehrte Manfred Ferbach in seinem kritischen Werk „Das Chaos in der Michelangelo-Forschung“ (Wien, 1957), als daß fast alle Michelangelo-Forscher bisher weitgehend gefälschten Quellen aufgesessen sind. DIE FURCHE hat ihn gebeten, einen Aufsatz über ein Thema zu schreiben, das noch sehr wenig erforscht ist: über Michelangelo als Philosophen.

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Nicht mehr und nicht weniger behauptet der Wiener Privatgelehrte Manfred Ferbach in seinem kritischen Werk „Das Chaos in der Michelangelo-Forschung“ (Wien, 1957), als daß fast alle Michelangelo-Forscher bisher weitgehend gefälschten Quellen aufgesessen sind. DIE FURCHE hat ihn gebeten, einen Aufsatz über ein Thema zu schreiben, das noch sehr wenig erforscht ist: über Michelangelo als Philosophen.

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Was ist nach Michelangelo „Wahrheit und Irrtum“? Wie nur wenigen bekannt ist, hat Michelangelo in den Jahren 1515 bis 1519 einen Traktat „Wahrheit und Irrtum“ verfaßt, das seinen geistigen Rechenschaftsbericht darstellt. Aus diesem Traktat geht hervor, daß wir eine Vorstellung von der Wahrheit erst dann erhalten, wenn wir uns auf den Weg der Wahrheit begeben. Je mehr wir diesen Weg beschreiten, um so eher erhalten wir eine klare Vorstellung von dem Begriff Wahrheit. Die Erkenntnis von der „Wahrheit Gottes“ wird erst dann vermehrt, wenn wir uns dem Raum der Wahrheit nähern. Aber erst im Raum der Wahrheit selbst sind wir in der Lage, die „Wahrheit um Gott“ richtig zu erkennen. Im Mittelpunkt der philosophischen Betrachtungen Michelangelos steht ein Satz, der erstmalig von ihm geprägt wurde. Der Satz lautet:

„Stellen wir uns doch vor, der Raum der Wahrheit sei ein Quadrat.“ Das Quadrat in diesem Sinne als der Raum der Wahrheit ist ein wichtiges Symbol, denn es ist ein in sich ausgeglichener Raum. Im Raum der Wahrheit gibt es somit überhaupt keine Vorstellung von ihr, das ist gewiß, „denn wer Gott sieht (chi vede iddio, che ė verita), und Gott ist die Wahrheit, der braucht sich nicht mehr mit der Vorstellung von Ihm abzuquälen, da er ja die Wahrheit geistig sieht.“ Auch betont der Meister, daß wer sich von der „Wahrheit als solcher“ und von der „Wahrheit, die Gott ist“ entfernt, daß beide von „Gott" nichts wissen.

Wie wir sehen, handelt es sich um die Begriffe „Wahrheit" und „Gott ist die Wahrheit“. Deshalb sagt Michelangelo von jenen, die „Gott sehen", daß nur die von Gott reden dürfen, die die Wahrheit wirklich kennen. Da fast alle nur in der Vorstellung von Gott leben, so wissen sie doch von der Wahrheit um Gott wenig, um so weniger, desto mehr sie selbst den Weg zu Gott, also den Weg der Wahrheit verlassen haben. Diese könnten nicht beweisen, daß all das, was sie uns von Ihm berichten, wahr ist, und zwar schon deshalb nicht, weil sie ja nur eine Vorstellung von dem Begriff und dem Wesen „Gott“ haben. Es weiß nur jener etwas mehr, der diese Wahrheit, also Gott gesehen (geistig gesehen), gefühlt (seelisch empfunden), ergründet, also Gottes Wort erlebt hat.

Jetzt taucht die Frage auf: Wer kann Gott sehen? Da Gott die Wahrheit ist, nur Er sich die Menschen schuf, zum Bilde, aber nur im tieferen Sinne dieser Wahrheit, so sind wir als Wesen Gottes doch echte Kinder dieser göttlichen Wahrheit. Erst jene Menschen, die vom Wege der Wahrheit abgehen, geraten immer mehr auf den Weg des Irrtums und enden im Raum des Irrtums. Diese Menschen sollten in den Raum der Wahrheit zurückgeführt werden. Diese Aufgabe für die Menschen als Stellvertreter Gottes stellt Michelangelo zuerst in der Sixtina-Decke dar. In dem Traktat „Wahrheit und Irrtum“ gibt der Meister über die Frage „Was ist der Irrtum“ keine richtige Antwort, da er ja diesen in irgendeiner Form, besonders durch seine Kunstwerke, beweisen wollte.

Nun die Probleme: Die „Wahrheit" und der „Mensch“.

Gott 'schuf den Menschen sich zum Bilde,. Wer dies anerkennt, der ist „selbst die Wahrheit“. Je weniger er glaubt, desto schneller befindet er sich im Raum des Irrtums. Zum „Glauben" und „Unglauben“ kommen die Fehlerquellen, und zwar jene der „Religionsphilosophie", „Philosophie“ und „Aesthetik".

Gott sprach nun zum „Manne“ und der „Frau": Liebet euch. Vermehret euch im Sinne meines Willens. Hier taucht jetzt das Problem „Liebe“ im Gedanken der diesbezüglichen „Lehre Gottes“, also im Sinne der' „Wahrheit“ und des „Irrtums" auf. Michelangelo hat in der Sixtinadecke immer wieder durch seine religionsphilosophische Kunstsprache auch über die Liebe gesprochen und will beweisen, daß die Menschen zur Zeit Julius II. die „Wahrheit um die Liebe“, noch weniger die „Nächstenliebe“ kannten. Er sagt nämlich, daß die meisten Menschen der „Trieb-Liebe, der nur erotischen Liebe“ frönten, viele nur der „erotisch-geistigen Liebe“. Wer empfindet diese „erotisch-geistige Liebe“? Es sind jene Menschen, die zuerst der „Trieb-Liebe“ huldigen und erst dann den „Geist“ und die „Harmonie“, also das wirkliche Leben beim Partner suchen. Zuerst befinden sie sich im Raum des Irrtums, dann versuchen sie, von dem Weg des Irrtums fortzukommen, um in den „Raum der Wahrheit" zu gelangen. Dort leben jedoch nur jene Menschen, die sich nach dem Gesetz Gottes lieben, und zwar im Sinne der „geistig-erotischen Liebe“. Dies besagt, daß zuerst das Leben als „geistige Harmonie“ von „Mann und Frau“ gelebt werden sollte. Vom Kernpunkt dieser Philosophie Michelangelos lassen sich alle Fragen der Ethik, Aesthetik und auch die der Kunst klären. Es ist nun an der Zeit, darzutun, wie der Meister ein „Philosoph“ und der „Kunstphilosoph“ wurde.

Michelangelos Denken auf dem Gebiet der Malerei und Bildhauerei wurde durch Savonarolas philosophische Betrachtungen und Kunstpädagogik, gegen die heidnische Renaissance und die falsche Philosophie ankämpften, so stark angeregt, daß er schon 1506 Savonarola in den Schatten stellte. Der Meister übernahm aber auch des Bußprfdigers Auslegungssystem der Bibel,., Sayonarola interpretierte diese nicht nur dem Sinne nach, sondern auch noch geistig, moralisch, allegorisch und mythisch. Bis zum Jahre 1506 war Michelangelo lediglich ein Künstler, der die heidnische Renaissance durch seine thematisierten Kunstwerke im Sinne griechischer und spätrömischer Kunst bezwingen wollte. Zwei Beispiele mögen hier genügen.

Der Bacchus. Ende des Jahres 1497 er hielt Michelangelo, der damals 21 Jahre alt war, von Jacobo Gallo, bei dem er wohnte, einen Auftrag. Er formte für ihn einen Bacchus. In dieser Statue können wir eine Auseinandersetzung zwischen der antiken und neuzeitlichen Kunst erleben. Einen vom Uebermaß des Weines umnebelten jungen Menschen stellte er dar, der mit einem schelmischen Blick auf die halberhobene Schale schaut. Geformte Poesie des Weins, aber nur im Sinne des Weines Gottes, und den Einfluß der Antike, der Michelangelo damals vollkommen trunken machte — nur diese schelmische Seelenstimmung grub er in seinen „weintrunkenen Gott“ hinein. Im Gesichtsaus drück des Bacchus formte der Meister aber auch ein „schelmisch-tiefsinniges“ Lauschen. Es kann an dieser Stelle mit wenigen Worten das, was der Bildhauer in seinen Weingott der Griechen und des alttestamentlichen Zeitalters (2 Mac. 6, 7; 14, 33) hineingelegt hat, überhaupt nicht gesagt werden.

Der David. Michelangelos David sieht einen Kampf ohnegleichen vor sich. Der Bildhauer formte um 1502 seinen David, diesen aber zu einem aufrüttelnden Gotteskämpfer, lieber die geschichtliche Größe des Tyrannentöters war Michelangelo sich im klaren. Dies um so mehr, da der Bildhauer seinen Florentiner Mitbürgern die wahre Sprache des Davids als Tyrannentöter entgegenschleudern wollte, der den Kampf gegen die Borgiaphilister und gegen die Pharisäer aufnimmt. Michelangelo stellt seinen David noch vor dem Kampfbeginn dar. Nur dies ist der Grund, warum der Bildhauer technisch alles ins Gigantische steigerte. Durch die proportionelle Vergrößerung mußte aus seinem David in jedem Falle ein Riese werden. Da dieser in diesem Sinn auf uns wirken sollte, mußte an ihm auch alles in Spannung gehalten werden. Von Michelangelo wurde in diesem Giganten ungeheure Kraft dargestellt, ’ daher auch die breite Brust, die voll entwickelten Muskeln. Jeder Zug im Gesicht des David verrät die trotzige Verachtung und die rücksichtslose Entschlossenheit, die Tyrannen zu bekämpfen. Nur deshalb formte er die breiten Backen, das energische Kinn, die kräftige Nase, die festgepreßten Lippen, die finster zusammengezogenen Brauen, unter der niedrigen, gerunzelten, von dichtem Haar beschatteten Stirn. Drohend und finster bohren sich die Augen in die des Gegner» hinein. Etwas zurückgelehnt ruht der Körper sicher auf dem rechten Fuß, als wollte er seine Kraft nochmals abwägen, ehe er zum Wurf ausholt. In einer solchen Stellung, bei einem solchen Blick, wie es bis dahin in der Kunst noch nie dargestellt worden war, in einem solchen Spannungsmoment der Tat, fragt man nicht erst, was dieser David tun will. Was Michelangelo von dem biblischen Motiv beibehalten hat, ist lediglich der Stoff. Obwohl er den Giganten als rücksichtslosen Kämpfer für Gott darstellt, erleben wir in diesem Gesicht auch fragende Trauer, als wollte er sagen: Wann wird denn das große Elend und Verderben unter den Borgia aufhören? Aber wehe dem Häuptling Sodoms, dem bösen Volk Gomorrhas!

Für die Regierung der florentinischen Republik war dieser David das Wahrzeichen der freien Stadt Florenz. Kaum war Michelangelo in Florenz mit dem David fertig, als Papst Julius II. in Rom verlangte, er solle nun für ihn arbeiten (1505). Michelangelo sah, daß Julius „auf dem alten Pfad" weiterschritt und anerkannte ihn nicht als Erneuerer der Kirche. Zu diesem sollte er durch die stürmische Begegnung und Auseinandersetzung mit Michelangelo werden.

Schon im ersten Band „Das Chaos in der Michelangelo-Forschung“ habe ich nachgewiesen, daß Michelangelo Julius II. gegenüber ein Rebell war, der sogar in der Sixtinadecke die geistige Kraft und den Mut bewies, den Feldherrn Julius II. als geköpften Holofernes darzustellen. Als der Papst unverhofft auf dem Arbeitsplatz Michelangelos erschien und das Werk besichtigte, wollte er den Meister vom Gerüst werfen lassen und schlug nach ihm. Kaum hatte sich Julius II. entfernt, als Michelangelo schnell das Gerüst auseinandernahm und nach Florenz floh. Dort wurde Michelangelos Tun als' eine Heldentat gepriesen. Später drohte Julius II. der florentinischen Regierung mit Krieg, wenn Michelangelo nicht sofort nach Rom zurückkehre. Als Julius II. sich mit seinem Meister in Bologna ausgesöhnt hatte, befahl er zum Leidwesen des Künstlers (der nun einen anderen Aufbau des Gemäldezyklus ausführen wollte), daß er all das an der Decke bisher Geschaffene belasse und das Werk fertigstelle. Erst durch die gewandelte Haltung des Papstes erhielt Michelangelo den Antrieb, die „Wahrheit“ über den Niedergang des Papsttums und seinen Aufstieg unter dem Rovere-Papst, in seinen 84 Bildern der Sixtinadecke darzustellen.

Der Meister löste durch eine von ihm erdachte Sinnbildersprache (immer im Sinne „Wahrheit und Irrtum“) alle geistigen Probleme. Um die offenen Fragen auf dem Gebiet des Papsttums und der Religionsphilosophie eindeutig darstellen zu können, übernahm Michelangelo die Geschichte Noahs, und diese wieder im Sinnbild, und zwar „Noah als Julius II." und als „Weinbergsarbeiter Christi“. Zu jenem Nachfolger Christi, der kein Weinbergsarbeiter sein wollte, sprach Michelangelo durch seine Kunstsprache, daß er gestürzt und durch einen neuen Lichtbringer ersetzt wird. Durch die Erschaffungsbilder rollt Michelangelo jetzt die gesamte Lehre des Lichtbringers auf, mit dem Ziel, daß zuerst eine totale Reform durchgeführt werden sollte. Aber erst durch des Meisters Reformsprache wurde Julius II. im Jahre 1510 der Reformator. Als nach dem Tode Julius’ II. Michelangelos Gedanken in den Werken der Sixtina um 1518 und 15 51 verfolgt wurden, schuf er sein Traktat „Wahrheit und Irrtum", das seine Feinde belehren und bekehren sollte. Auch im Juliusgrabmal hatte er Julius II. um 1512 bis 1515 als Retter des Papsttums verherrlicht. In der Medici-Kapelle wurde von Michelangelo sodann die Lehre von Gut und Böse dargestellt, auf daß durch Clemens VII. eine neue Morgenröte anbricht. Dies war um so nötiger, da in Rom das Chaos herrschte. Erst unter Paul III. erhielt Michelangelo erneut die Möglichkeit, im Jüngsten Gericht seine Reformgedanken und noch jene des verstorbenen Julius II. weiter auszubauen. Der Meister war es, der als erster im Jüngsten Gericht bildlich sagte, daß Gott doch für alle Menschen da sei, wenn sie an Christus glauben. Nur deshalb wurde Michelangelo in Florenz und Rom schon um 1549 als ein „Lutheraner“ gebrandmarkt. Der eindeutige Kampf ist nachzuweisen.

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