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Zivilisationskrise und Irrationalismus

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Seit Nietzsche und Oswald Spengfer die Diagnose unserer kranken Zivilisation stellten, mehren sich die Bücher, die die Ursachen der Weltkrise, in der sich die Gegenwart befindet, ergründen wollen. Dabei muß auf das monumentale Werk „Apokalypse der deutschen Seele" von Hans Urs von Balthasar (1937—39) und auf Pflicglers „Die religiöse Situation" (1948) verwiesen werden. Die neuere zivilisationskritische Literatür unterscheidet sich von der älteren, im Sinne Nietzsches oder Spenglers gehaltenen, fast immer dadurch, daß im Zentrum ihrer Diagnose als Erreger der Abfall vom Christentum oder auch seine Säkularisation steht. Dieser geschichtliche Prozeß, der sich im Laufe der Jahrhunderte seit drin späten Mi titelalter auf mehrere Phasen verteilt, läßt sich im 19. Jahrhundert unter dem Namen Irrationalismus zusammertfassen; ein Prozeß, in dessen Überwindungsphase die Gegenwart seit dem zweiten Weltkrieg eingetreten ist.

Soeben erreicht uns ein Buch von J. H. W. Rosteutscher, Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Kapstadt, das ebenfalls den Ursachen der gegenwärtigen Krise nachgeht . Da es aber von einem Literaturhistoriker stammt, schlägt es den Weg literarischer Analyse, nicht den aktueller Zeitkritik ein. Gegenwärtiges soll in seinem Werden erklärt werden. Die Grundthese des ganzen Buches lautet: Europa habe seit der Französischen Revolution „daj Werden einer neuen Religion gesehen, deren Hauptentwicklung in Deutschland vor sich ging. Diese Religion ist ihrer Lehre und ihrer Ideen nach das vollständige Gegenteil von der, die die Gemüter zur Zeit der Französischen Revolution begeisterte und noch im modernen Sozialismus nachwirkt. Nicht die Vernunft, sondern der Trieb erscheint hier als zentrale Gottheit, der als unveränderlich betrachtete Volkscharakter, die unbewußten Ahnenspuren selbst als heilig. Es ist eine Mystik nicht der Vernunft, sondern der Natur. Es ist eine Religion, die dem irrationalen Geist moder-

Die Wiederkunft des Dionysos. Der nttur- mystiscbe Irrationalismus in Deutschland. Franke, Bern 1947. 366 Seiten ner Massen, die mit der christlichen Religion gebrochen haben, besonders gut angepaßt erscheint. Es ist die Religion des Dionysos, um Nietzsches Symbol zu gebrauchen, eine triebhafte, schöpferische und zerstörerische Religion“. Auf der Abwendung des Zeitgeistes von christlicher Transzendenz und dem Versuch, diese durch Pantheismus oder Naturmystik, durch Gottesvorstellungen, die letzten Endes vergöttlichte Triebe des Menschen sind, zu ersetzen, ist das Buch aufgebaut. Tatsächlich hat diese Zusammenhänge schon Eduard v. Hartmann erkannt, als er schrieb, dias Unbewußte sei die „All- Einheit“, sie sei eben das, „was den Kern aller großen Philosophien gebildet hat: Spinozas Substanz, Fichtes absolutes Ich, Schellings absolutes Subjekt — Objekt, Platos und Hegels absolute Idee, Schopenhauers Wille usw.“ So ist es denn im Grunde immer der gleiche Gott, dessen Wiederkehr man im Irrationalismus begegnet. Er heißt bei Hölderlin und Novalis Christus und ist dort mehr Menschgott als Gottmensch, bei Richard Wagner Siegfried, bei Stefan George Maximin, bei Hauptmann und Kllages Eros.

Es macht einen eigentümlichen Zug von Rosteutschers Arbeit aus, daß sie stark von Gedankengängen Freuds und C. G. Jungs beeinflußt ist. Im Anschluß an Freuds Moses- Schrift bezeichnet nun der Verfasser jene Verschiebung im religiösen Gefüge der deutschen Dichtung seit dem 18. Jahrhundert als die Ersetzung des christlichen Vatergottes durch einen amoralischen Sohngott. Wir fügen hinzu, daß sich diese Umdeutung des christlichen „Menschensohnes“ in einen amoralischen Sohngott an dem Christusbild von Hölderlin und Novali schon klar erkennen läßt. Tatsächlich sprechen diese nicht mehr vom Christus der christlichen Tran-, szendenz, sondern von einem Gotte letzten Endes monistischer und spinozistischer Herkunft, dem sie den Namen Christus geben. Daher kann denn auch Hölderlin Christus mit Dionysos und sogar Sokrates auf eine Wesenslinie stellen. Man braucht nur Wagners „Ring des Nibelungen" oder Spittclers „Olympischen Frühling" daraufhin anzusehen und wird gewahr: die Yatergötter Wotan wie Zeus müssen ihre Herrschaft an die Heroen Siegfried und Herakles weitergeben, die Symbole solcher Sohngötter sind,

nimmt man Freuds, Jungs und des Verfassers Hypothesen an. (Leider gedenkt der Verfasser Spittelers mit keinem Wort.) Wie man sich nun auch zu solchen Voraussetzungen stellen mag, eines besteht zu Recht: die Wiederkunft ältester mythischer Vorstellungen, bei Rosteutscher „Wiederkunft der Götter" genannt, bestimmt die Geschichte des dichterischen Irrationalismus von Anfang an. Nietzsche sagt dies in einem Aphorismus der „Götzendämmerung“, wo er davon spricht, daß der Hellene sich mit seinen Mysterien das ewige Leben verbürge, „die Zukunft in der Vergangenheit verheißen und geweiht“.

Soweit Rosteutscher den Irrationalismus als Wiederkunft der heidnischen Götter, als Polemik gegen den christlichen Vatergott und als „Stirb-und-Werde-Rhythmus“ des polaren Lebens beschreibt, ergeben sich in der Tat Züge einer einheitlichen geistes- geschichtlidien Struktur. Nun ist aber diese Struktur weit komplexer, als dies nach der Darstellung des Verfassers den Anschein hat. Das wird zunächst jedem klar, der die Stellen kennt, in denen Thomas Mann (der hier als „Jünger des Dionysos" erscheint) seine Stellung zum Irrationalismus, vor allem

Kkges’scher Prägung, genau festgelegt hat. Der Dichter würde denn wahrscheinlich gegen seine Aufnahme unter die Irrationalisten erhebliche Bedenken geltend machen. Tatsächlich sind auch die Thomas Mann gewidmeten vier Seiten der schwächste Teil des ganzen Buches. Man lese in Manns „Pariser Rechenschaft“ oder in seinem Briefwechsel mit Kerenyi nach, wie sehr er sich das zuerst von Alfred Baeumler in dessen Bachofen- Ausgabe („Der Mythos von Orient und Okzident“, 1926) aufgezeigte Doppelwesen der deutschen Romantik zu eigen gemacht hat, um sich klar und deutlich von der — von Baeumler als „eigentliche" Romantik bezeichneten — irrationalen Haltung Bachofens, Baeumlers und Klages’ zu distanzieren. Thomas Mann hat wiederholt ausgesprochen, er fühle sich weit mehr mit einer der Zukunft zugewandten • Romantik (Friedrich Schlegel bis Nietzsche) als mit einer den Tod und die Vergangenheit feiernden verbunden. Es gereicht der Arbeit Rosteutschers zum Mangel, daß sie von diesen bedeutsamen Grenzziehungen keine Notiz nimmt. Aber noch zwei weitere Stellen zwingen zum Zweifel an der geschlossenen Einheit des Irrationalismus, die vom Verfasser zwar nirgends ausdrücklich betont wird, aber dennoch mit zu den Baugedanken des Werkes gehört. Da ist zunächst die Kritik von Klages an der Bachofenschen Hochschätzung der Paternität sowie an dessen christlichen und rationalistischen Zügen. Die zweite

Bruchstelle ist dort zu suchen, wo der Verfasser von der konsequenten Trennung der Münchner Kosmiker Klages, Wolfskehl und Schüler von Stefan George spricht. Baeumlers Unterscheidung einer ästhetischen von einer religiösen oder irrationalen Romantik hätte hier in der Tat die Handhabe geboten, um solche Gegensätze wie die zwischen Klages und George zu erklären. Vollends erblicke ich einen Mangel des Buches darin, daß Oswald Spenglers nicht gedacht wird. Ist eine in Tagesfragen übergreifende Darstellung des modernen Irrationalismus ohne Spengler auch nur denkbar? Ist doch Spengler die Brücke von Philosophie zu politischer Ideologie geworden. Und damit steht man vor einer Grundfrage des ganzen Buches: wie weit dürfen Philosopheme und Weisheitslehren für politische Ideologien verantwortlich gemacht werden? Ohne hier schlechthin Endgültiges wagen zu können, glauben wir doch auf die Grenzziehung zwischen jenen grundsätzlich verschiedenen Ebenen nicht verzichten zu dürfen.

Am Schlüsse seines Werkes bekennt sich Rosteutscher zur These, daß hinter aller radikalen Skepsis, dem Nihilismus, der „schöpferischen Zerstörung", sich „unabweis-

lich die Forderung einer rationalen Neubegründung der Kultur" und einer „Neubegründung der Wertwelt unter Einbeziehung der psychologischen Gesamtpersönlichkeit des Menschen“ unter Berufung auf Seilli re und Jaspers erhebe. Damit huldigt Rosteutscher einem Neurationalismus, dessen Wurzeln einerseits in der Abkehr vom „Ruf des großen Zurück" (Jaspers), andererseits in einem durch den Irrationalismus entlarvten und vertieften Menschenbild, mit dessen gräßlicher, blutbedeckter Fratze jede neue Ansicht vom Menschen rechnen muß, liegen. So gelangt dieses Buch zu ähnlichen Ergebnissen, wie sie unabhängig voneinander auch Thomas Mann, k.arl Kerfnyi und Karl Jaspers bekennen: nur der durch das Bewußtsein geläuterte Mensch verdient es, Mensch zu heißen. Es gehört mit zu den Zeichen unserer Tage, daß schon während des Krieges dieser Neuhumanismus oder Neurationalismus die Gemüter ergriff. Ja, in der Tat, die Gemüter. Denn eben dies wird von ihm gefordert: daß der Gesamtmensdi sich der Führung der Mächte des Oben unterordne, und dem Diktat des Unteh, des Unbewußten, des Willens, des Triebes, des dunklen Dranges entsage. Damit ist, trügen nicht die Zeichen, die letzte Konsequenz des Spinozistischem Monismus und der Obermenschenidee schon überschritten. Noch liegt das Land jenseits dieses Rubikons im Schatten, aber der Weg zur Überwindung des atheistischen Nihilismus ist bereits betreten.

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