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Zu Leo Gabriels Existenzphilosophie

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Von Kierkegaard bis Sartre. Verlag Herold, Wien. 416 Selten. Preis S 48.—

Jeder neue philosophische Gedanke strahlt auf die Einzeldisziplinen der Logik, der Psychologie, der Anthropologie und der Metaphysik aus und gibt der ganzen Welt-und Lebensauffassung ein neues Gesicht. Deshalb ist es möglich, eine Geistesströmung wie die der Existenzphilosophie von den verschiedensten Aspekten her zu beleuchten: von phänomenologischen, psychologischen, metaphysischen, und innerhalb ihrer gibt es wieder eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten, die objektiv begründet sind.

Leo Gabriels Darstellung der Existenzphilö-sophie ist vornehmlich ideengeschichtlich und „metaphysisch“, wenn man letzteren Ausdruck weit genug versteht. Und innerhalb der Ideengeschichte und Metaphysik greift er ganz bestimmte, für die Gegenwart besonders gewichtige Probleme heraus: das sei kurz am Problem der Offenheit des Seins und des Historismus aufgezeigt.

Die Existenzphilosophie versucht im allgemein, den Ich-Gedanken, das Fundament der neuzeitlichen Philosophie, aufzulösen. Das geschieht aus einer klar umrissenen Absicht heraus, der Absicht, den Zugang zum Sein freizulegen. Sartre hat diese Tendenz in einem Artikel über die Transzendenz des Ich“ (Recherches Philosophiques 1936, VI. Jg., S. 85 bis 123) auf die Spitze getrieben. Er meint, das transzendentale Feld bekomme seine eigentümliche Transparenz und Klarheit erst dann, wenn es von jeder nachträglich in

es hineingeschmuggelten ichhaften Struktur befreit werde. Dann könne es als ein Nichts angesprochen werden, da sich alle physischen und psychischen Gegenstände, alle Wahrheiten und Werte außerhalb seiner befänden. Dieses Nichts sei zugleich wieder alles, da es Bewußtsein von allem sei. — Leo Gabriel hebt den Sinn dieses ichfeindlichen Zuges der Existenzphilosophie mit bemerkenswerter Klarheit heraus. „Gerade darum“, so schreibt er, „wird die Absolutheit des Ich im Existentialismus angegriffen und aufgelöst, damit das Ich aufhöre, die Erscheinung, das unmittelbar Gegebene zu relativieren und in sich aufzuheben. In dieser Angegriffenheit, Erschüttertheit und Genichtetheit des Ich wird die unmittelbare Selbsterscheinung des absoluten Seins erst möglich. So fundiert das Für-sich-sein gerade auf dem Weg des Nichtens die Parusie des Seins, die Erscheinung des Seins“ (256).

Mit dem Problem der Offenheit des Seins hängt dasjenige des Historismus engstens zusammen. Der Mensch ist geschichtliches Wesen. Ist er, der Geschichte begreift, nicht selbst so in den Strudel der Geschichte hineingerissen, daß er keinen festen Standort mehr findet, von dem her er Geschichte objektiv beurteilen kann? Ist er damit nicht notwendig dem alles verschlingenden Relativismus und der Skepsis preisgegeben? — Das ist nur dann der Fall, wenn er keinen Zugang zu etwas Absolutem hat. Findet er jedoch einen unmittelbaren Zugang zum Sein, dann gewinnt er damit zugleich einen absoluten Standort, der hinter jeder Geschichtlichkeit liegt. Dieser Standort ist die Existenz, die in einem beziehungslosen Haben des eigenen Selbst ursprünglich ergriffen wird. „So wird durch den Akt des Selbstseins alles Geschehen in der Geschichte in die Existenz zurückgenommen und auf seine wesentliche Geschehenswirklichkeit zurückgeführt. Im Selbstwerden des Menschen haben wir wirklich die ursprüngliche absolute Bewegung der Geschichte vor uns“ (315).

Das 6ind zwei Beispiele dafür, wie es Leo Gabriel — der keine geistlose Jaspers- oder Heidegger-Philologie betreibt — in seiner Behandlung der Existenzphilosophie ständig um die Probleme der Gegenwart geht.

Das zweite Anliegen Gabriels ist zu zeigen, wie wir allmählich zu unseren Problemen gekommen sind, welchen Anteil in diesem Prozeß Descartes, Kant, Hegel, Bergson, Dilthey und Simmel genommen haben. Existenzphilosophen, wie Kierkegaard, Heidegger, Jaspers, Sartre, Gabriel Marcel, Camus und Peter Wust, erscheinen damit als Denker, die durchaus nicht als Modephilosophen abgetan werden dürfen, sondern die um die Lösung der in der neuzeitlichen Philosophie angelegten Probleme ringen. Erfreulich ist, daß Peter Wust, der heute vielfach übergangen wird, zur Sprache kommt. Vielleicht hätte Gabriel Marcel eingehender behandelt werden können. Darüber läßt sich streiten. Auf alle Fälle ' ist anzuerkennen: die großen ideengeschichtlichen Zusammenhänge 6ind überall meisterlich herausgestellt und zeugen für die souveräne Beherrschung der neuzeitlichen Problematik.

Diese Verdienste wären erheblich genug, um das Buch einem gründlichen Studium anzuempfehlen. Doch seine Ziele liegen noch viel höher. Gabriel hat nicht die Absicht, nur referierend zu verstehen und in die Problematik unserer Zeit einzuführen, er bahnt auch neue Lösungsversuche an.

Die Existenz nämlich kann als .Ursprung“ unserer ganzen gegenständlichen Welt“ nicht mit dieser Welt auf einen Fuß gestellt werden. Es ist sorgfältigst zwischen gegenständlicher Welt und nichtgegenständlicher Existenz als deren Ursprung zu unterscheiden. Die Wissenschaften haben es mit der Gegenstandswelt zu tun. Die bisherige Philosophie hat die Existenz vielfach nach Art eines Gegenstandes behandelt. Das ist offenbar ein Fehler gewesen.

Diese Einsicht stellt eine schwere Aufgabe: nämlich die Aufgabe, die geeignete Methode und die Logik zur Behandlung von Existenz aufzufinden. Gerade hier ist der Punkt, an dem Gabriel entscheidend weiterarbeiten will. „Nur die strenge Unterscheidung des Urgrunddenkens vom gegenständlich-kategorialen Denken der wissenschaftlichen Erkenntnisweise vermag den gesicherten Zugang und Eingang in das Reich der Metaphysik zu gewährleisten, ohne die gegenständliche Form wissenschaftlicher Denkweise in ihren Bereichen zu beeinträchtigen, im Gegenteil, um gerade auch in diesen Bereichen die letzten Prinzipien und Fundamente sicherstellen zu können, weil die wissenschaftliche Denkform aus einsichtigen Gründen ihrer Struktur dieä nicht mehr leisten kann“ (13). Leo Gabriel stellt eine „integrale“ Logik“ in Aussicht, die die Urgrundproblematik iösen soll.

Die Aufgeschlossenheit des Verfassers für die Probleme unserer Zeit: die hohe Kunst, große ideengeschichtliche Zusammenhänge zu beleuchten und lebendig dazustellen; die starken Ansätze zu eigenem Philosophieren — Gabriel verspricht uns die Ausarbeitung einer Lehre von der logischen Differenz, die derjenigen Heideggers von der ontologischen Differenz parallel laufen soll —; endlich, im Gegensatz zu anderen existenzphilosophischen Ausführungen, die Anerkennung der streng wissenschaftlichen Methode — das alles sind Vorzüge dieses neuen Werkes über Existenzphilosophie, die es weit über den Rang einer bloß historischen Darstellung einer „Modephilosophie“ hinausheben.

Kleines Musiklexikon. Von R. Tschierpe. Hoffman- und Campe-Verlag, Hamburg. 410 Saiten.

Niveau und Vollständigkeit eines Lexikons sind in erster Linie — aber nicht ausschließlich — vom Umfang der einzelnen Beiträge abhängig. Wer einmal versucht hat, einen kompliz'erten Tatbestand auf eine einfache Formel zu bringen, weiß, wie viel auf diesem Gebiet geleistet werden kann. Das Mögliche wurde mit dem vorliegenden Werk erreicht. Es ist — im Unterschied zu zahlreichen ähnlichen Nachschlagewerken, die während der letzten Jahre in Österreich erschienen sind — fast frei von Flüchtigkeits- und Druckfehlern. Die Richtigstellung des verzeichneten Wertbildes der deutschen Musik zwischen 1933 bis 1945 ließ sich der Autor besonders angelegen sein. Hervorzuheben sind auch die zahlreichen und verläßlichen (natürlich nur die wesentlichen Werke umfassenden) Literaturangaben sowie vierzehn sorgfältig gearbeitete Tabellen und Ubersichten. Sogar eine Aussprachetabelle des Französischen und Italienischen ist nicht vergessen. Die Anerkennung und Beliebtheit, deren sich das handliche Nachschlagewerk erfreut, findet ihren überzeugenden Ausdruck durch die vorliegende 3. Auflage, die innerhalb kürzester Zeit notwendig geworden ist. Prof. Dr. H. A. Fiechtner

A History of the English People. By R. J.

Mitchell and M. D. R. L e y s. Longmans, Green & Co., London. 612 pp. Der Titel des vorliegenden stattlichen Bandes ist, um mit einer kritischen Bemerkung zu beginnen, nicht gut gewählt, denn hier handelt es sieh nur um einen bestimmten Sektor der Geschichte des englischen Volkes, nämlich um eine Darstellung seines täglichen Lebens im Spiegel zweier Jahrtausende. Innerhalb dieses Rahmens haben die Autoren allerdings eine Leistung vollbracht, die als mustergültig zu bezeichnen ist. Was wissen wir vom Tun und Treiben des Briten in der vorrömischen Zeit, und später, unter der römischen Besetzung? Wie kleidete man sich, wie wohnte man, und wie begrub man seine Toten unter angelsächsischer, und dänischer Herrschaft? Wie gestaltete sieh das Los des Landpfarrers, des Bauern, des Handwerkers nach der normannischen Invasion? Wie wirkte sich die Feudalherrschaft auf die Lebenshaltung des einzelnen aus? Wir waren die Nahrung, Wohnung und Hauseinrichtung, die Gesundheitspflege und Erholung, die Kindererziehung oder das Reisen im England de 12., 14., 16., 18. Jahrhunderts? Was lernte man in den Schulen, was las man, wie trieb man Sport, was spielten die Theater? Solche und unzählige andere Fragen werden hier an Hand eines reichen Quellenmaterials erörtert, mit einer Sachlichkeit, die auch den sti engen Ansprüchen des Historikers genügt, und dabei doch in einer so lebendigen und ansprechenden Form, daß der Leser vermeinen könnte, einen fesselnden Roman in der Hand zu haben. Zahlreiche vornehm ausgeführte Bildtafeln und Textillustrationen erhöhen den Wert dieses schönen Werkes.

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