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Zur Deutung mittelalterlicher Kunst

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Zu den großen ungelösten Aufgaben einer Geschichtsforschung, die es sich zur Aufgabe stellt, den wahren Ursprüngen und Entwicklungstendenzen der Entstehung des Abendlandes nachzugehen, gehört der Problemkreis der frühmittelalterlichen Kunst. Jener Kunst vor dem Sieg der Gotik, die, zumal in den Epochen des Karolingischen und Ottonischen, Werke von einer Größe, Monumentalität, inneren Dichte und Inhaltsschwere geschaffen hat, die im ganzen folgenden Jahrtausend vielleicht nicht wieder erreicht worden ist. — Wer den Engel der Verkündigung im Perikopenbuch Heinrichs II. auf sich niederblicken sah, wer sich den dramatischen Vorgängen stellte, wie sie die Hildesheimer Domtür im Brudermord Kains, in der Vertreibung aus dem Paradies demonstriert, wird einer einmaligen Erschütterung teilhaftig, die nie ganz ausschwingt.

Es muß deshalb jeder neue Versuch, in Wesen und Eigenart dieser großartigen Formen-, Bild- und Farbwelt einzuführen, bereits als solcher begrüßt werden. Steht hier doch die Möglichkeit offen, Zugänge aufzudecken zu lange verschütteten seelischen und geistigen Komponenten, die einst bestimmend und gestaltend mitgewirkt haben beim Aufbau des europäischen Menschen.

Nun legt Werner Weisbach, der bekannte deutsche Kunsthistoriker, im Benziger Verlag (Einsiedeln, Zürich) ein vornehm ausgestattetes, vom Verlag sorgfältig betreutes Werk vor: „Ausdrucksgestaltung in mittelalterlicher Kunst”. An Hand von 49 Bildern auf 24 Tafeln sucht Weisbach, der im selben Verlag bereits 1945 ein großes Werk „Religiöse Reform und mittelalterliche Kunst” herausgebracht hat, dem modernen Leser — als solcher ist der Durchschnittsgebildete gedacht — die europäische Kunst zwischen Antike und Gotik zu erläutern, sein Interesse für jene uns heute so fernstehende Welt zu gewinnen. — Eine sehr saubere Arbeit eines „reinen” Kunsthistorikers. Als solcher beschränkt Weisbach den, wie er selbst sagt, vieldeutigen Begriff „Ausdruck” auf rein formale Kriterien: „Agieren der Figuren, Ausdrucksgebärden, Beziehungen mehrerer Figuren zu einander usw.” Dies ist das Thema seines Buches. „Außer Betracht bleibt für uns eine sonst auch mit dem Begriff Ausdruck verbundene Bedeutung, die darauf beruht, daß man in Formensprache und künstlerischem Stil einer Zeit eine der betreffenden Zeit eigene geistige Haltung, Weltanschauung oder kulturelle ‘Gegebenheiten ausgedrückt sehen will.” (Seite 4.) Ist es aber möglich, über eine dermaßen geistig, religiös, weltanschaulich und Zeithaft gebundene Kunst, wie eben die des frühen Mittelalters, rein formal, zu sprechen? Wir halten dies für ganz und gar unmöglich. Zudem Weisbach selbst erklärt, er wolle erschließen, „was zur Verdeutlichung, zum Erfassen und Verstehen ihres Inhalts gehört”! Läßt sich dieser Inhalt aber durch rein formale Gesichtspunkte erfassen, beziehungsweise begrenzen? Gewiß nicht. Auch Weisbach sieht sich immer wieder gezwungen, auf den geistigen, religiösen und kulturellen Hintergrund, der ja im Vordergrund der Formen zum „Ausdruck” kommt, anzuspielen. Man kann eben nicht über Darstellungen der christlichen Religion, man kann nicht über frühmittelalterliche Kunst sprechen, ohne den Inhalt ins Auge zu fassen, dessen Bilder so expressiv ins Auge springen! Leider tut Weisbach dies in sehr flächigen generalisierenden Bemerkungen, die dem Stand der gegenwärtigen Forschung keine Rechnung tragen. Karl der Große erscheint als „ein bildungsloser Analphabet”, er fördert aber die „humanistische Stimmung an seinem Hofe” (Seite 18. — Vergleiche dagegen über das Karolingische Bildungsproblem: Weniger, Historische Vierteljahrsschrift, 30. Jg., 1935, 466 ff.). Die so wichtige Grundfrage, warum die „Nordländer” (Germanen) sich zur Übernahme des antiken Formgutes entschlossen, wird nur gestreift; daß die Liturgie hiebei eine große Rolle gespielt hat, wird kurz vermerkt (33 f), leider ohne Rücksicht auf die umfassenden Forschungen von A. Mayer-Pfannholz im Liturgiewissenschaftlichen Jahrbuch. Weisbach, der in seinem oben zitierten Hauptwerk den Beziehungen zwischen Cluniazensischer Reform und der Kunst des 11. und beginnenden 12. Jahrhunderts nachgegangen ist, hält dennoch an den alten überholten Ansichten fest, die die Kluniazenser als „asketisch” (das heißt hier weltfeindlich-finstere) Mönchstypen sehen wollen, wie überhaupt seine Auffassung des Christlichen auf dem Stande der geisteswissenschaftlichen Forschung des vergangenen Jahrhunderts fußt. (Zum neuen Cluny-Bild vergleiche etwa G. Schreiber, Archiv für Urkundenforschung, 17/1942; F. Mercier, Les Primitifs franęais, la peinture Clunysienne en Bourgogne ä l.epoque Romane. Paris 1931; G. Valous, Le monachisme Clunisien, 2 vol. Paris 1935: zur Geistesart Clunys: Talbot, Cluni Spirituality, in: Blackfriars, 18. August 1945: Leclercq, in: Cahiers de i’art sacre, 2. Paris 1945.) Daß hingegen Hildesheim, der Sitz altfeudaler geistlicher Herren mit seinem berühmten Domkapitel und einer vielgerühmten „humanistischen” Schule, bei Weisbach als „ein Zentrum kluniazensischen Geistes” aufscheint (Seite 58), sei der Kuriosität halber vermerkt. Schmerzlich vermissen wir eine so notwendige Auseinandersetzung mit den Gedanken A. Silva. Taroucas (Stilgesetze des frühen Abendlandes, Mainz 1943). Zumindest im Abschnitt über den Utrechter Psalter (Seite24 f.) wäre hier Bezug zu nehmen gewesen. Weisbach widmet den Großteil seines Werkes der Malerei — ohne auch nur einmal zum Problem der so eigentümlichen Farbwelt dieser Kunst Stellung zu nehmen. Die Übernahme der antiken „Machtfarben” de Kaiserkults in das christliche Formgut ist eines der interessantesten Phänomene im Übergang von der Antike zum Mittelalter (vergleiche Haeberlein, Grundzüge einer nachantiken Farbenikonographie. Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 3, 1939, besonders 76 ff.). Zur Auffassung des Bildes, der Malerei überhaupt im Frühmittelalter wären außerdem heranzuziehen gewesen die Aufsätze von G. Ladner, Zeitschrift für Kirchengeschichte 50/1931 und Gougaud, Muta praedictoria, Revue benedictine XLII/1930.

Weisbach erklärt im Vorwort, daß er sein Buch während der Kriegszeit schrieb und nur Material, das innerhalb der Schweiz zugänglich war, benützen konnte. Wir sind weit entfernt davon, gegen den Verfasser, dessen Gewissenhaftigkeit in wissenschaftlichen Arbeiten bekannt ist, hier einen Vorwurf zu erheben. Wir teilen seinen Schmerz — es ist das große Notanliegen so vieler europäischer Wissenschaftler heute, wichtige Bücher oft nicht aus dem Auslande beziehen zu können. Interessant, daß die viel zahlungskräftigere Schweiz in einer ähnlichen Lage wie Österreich zu sein scheint, zumindest was die Stellung ihrer Forscher betrifft. Nicht darum aber geht es hier — vielmehr um eine grundsätzliche Frage. Kann und darf der Kunsthistoriker weiterhin über mittelalterliche Kunst arbeiten unter völligem Absehen von den Ergebnissen, welche die geistesgeschichtliiche, religions.

wissenschaftliche und historische Forschung zu denselben Thema erbracht hat? Wir glauben diese Frage verneinen zu müssen. Eine rein formale Kunstgeschichtsschreibung, die vom Wesen und Inhalt, das heißt konkret hier in diesem Falle von den frühmittelalterlichen Frömmigkeitsstilen und ihren Bewegungen absehen zu können glaubt, vermag auch nicht den „Ausdruck” mittelalterlicher Kunst festzustellen und festzuhalten. Das Außen ist immer der Spiegel eines Innen: Wer die Schale verstehen will, muß sich zuerst den Kern besehen. Dies eine der wichtigsten Aufgaben künftiger Kunstgeschichtsschreibung: sie muß engsten Anschluß an ihre Nachbardisziplinen suchen, an allgemeine Geschichte, Geistes, und Religionsgeschichte, nicht zuletzt an die Soziologie. Dies bezeugt gerade das neueste Werk W. Weisbachs.

Geschichte Österreichs. Von Hermann Gsteu. Tyroüa-Verlag, Innsbruck-Wien 1947. Großoktav, 502 Seiten, 8 Tiefdruckblätter, mehrere Kartenskizzen im Text, 3 Stammtafeln.

Seit 1945 wird der Büchermarkt laufend durch Gesamtdarstellungen der Geschichte Österreichs versorgt. Nach den Publikationen von Eva Priester, Ludwig Reiter. G. F. Litschauer, Ferdinand Trentei und seinen Mitarbeitern, dem einzigen wissenschaftlich bedeutsamen Werk von Hugo Hantsch und dem kleinen Bändchen des Franzosen Jacques Droz präsentiert Hermann Gsteu, der sich durch eine Arbeit über die Tiroler Landtage vor Jahren die Anerkennung der Wissenschaft erworben hatte, eine nur mit vielen Vorbehalten aufzunehmende Geschichte Österreichs. Die Schreibweise des Autors .ist einfach und übersichtlich, elementare Fehler in Ort- und Zeitangaben sowie in der Darstellung der Ereignisse sind vermieden — das wird man ihm zubilligen. Ob er aber nicht doch die geistige Aufnahmsfähigkeiten seiner Leser unterschätzt, wenn er seitenlang Binsenwahrheiten in lehrhaftem Ton verkündet? Trotz der Versicherung auf dem Schutzumschlag glaubt man nicht recht, daß das Buch „den Leser selbst zum Denken und Urteilen hinzuführen” vermag und „eine überaus anregende Lektüre” bildet. Von den ebenfalls angekündigten „prägnant hervortretenden leitenden Ideen” ist auch nicht viel zu sehen. Man darf dem Verfasser, der ja schon gezeigt hat, daß er es auch anders kann, nur empfehlen, das nächste Mal es sich und seinem Lesepublikum etwas schwerer zu machen.

Heilige Bildung. Gedanken über Wesen und Weg christlicher Vollendung. Von Michael Pfliegler. 5. Auflage. Anton-Pustet-Verlag, Graz-Wien 1948. 179 Seiten.

Die fünfte Auflage des bekannten Buches erscheint in einer Zeit, die nach den Katastrophen des zweiten Weltkrieges wieder einmal viel, wenn nicht alles Heil von der Erziehung, und diesmal von einer geradezu offiziellen und betriebsmäßigen Planung der Erziehung erwartet. Um so eindringlicher erinnert Pflieg’ler gegenüber allem bloß organisierenden und äußerlich bewußt planenden pädagogischen Geschäft an das allein fruchtbare Tun wirklich erziehenden Lebens. Die dreifache Gegebenheit menschlichen Lebens als Leben des Leibes, des Geistes und der Übernatur bringt alle Wahrheiten gegenüber dem nun wieder gesteigerten pädagogischen Naturalismus in erfreulich lebendiger Gegenwartssprache in Erinnerung.

Heilige Bildung wird nicht als tote Anweisung und nur negative Bewahrung, auch nicht als Mittel für bloß natürliche Erziehungsziele gesehen, sondern als Formung zum heiligen Menschen, dessen nächstes Ziel die „möglichste Nachbildung des Lebens Christi im eigenen Leben” ist. Als echtes Leben wird heilige Bildung Mitleben mit dem heiligen Leben der Kirche bedeuten. Der Gleichklang des Arbeitsjahres und natürlichen Jahres mit dem heiligen Jahr wird die Einheit des natürlichen und übernatürlichen Lebens — nach Stanislaus von Dunin-Botrkowski die schwierigste Erziehungsaufgabe — erleichtern. Auch im

Religionsunterricht wird nicht das spielerisch Rationale des Lernens und Begreifens, neben dem die religiösen Übungen vereinzelt stehen, sondern das lebensmäßige Festhalten mehr bedeuten. Über die zeitbedingten Lebensformen der katholischen Jugendbewegung hinaus wird ein Bildungsideal zeitloser Gültigkeit gezeigt: „Der naturhaft und übernatürlich Gesunde und möglichst vollendete Mensch.”

Kirbisch. Von Anton Wildgans. Im Gemeinschaftsverlag: Bellaria-Verlag Wien und Verlag Anton Pustet, Salzburg.

Das bekannte epische Gedicht vom „Gendarmen, der Schande und dem Glück”, in einer ähnlichen Zeit wie dler unseren entstanden, spricht uns von allen Werken des Dichters vielleicht am unmittelbarsten an. Dies mag auch der Grund gewesen sein, weshalb der „Kirbisch” als erster Band der repräsentativen historisch- kritischen Gesamtausgabe erscheint, welche von der Witwe des Dichters gemeinsam mit Professor Dr. Rommel betreut wird. — Die vorliegende Kirbisch-Ausgabe ist vor allem durch einen etwa 50 Seiten umfassenden Anhang bemerkenswert, in welchem der Herausgeber auf Grund des handschriftlichen Nachlasses über die Formwer- dung der Dichtung berichtet. 1924 konzipiert, wurde das Epos in den drei folgenden Jahren niedergeschrieben. Zahlreiche Textproben der früheren Fassungen, insbesondere der beiden letzten Gesänge, gewähren uns einen Einblick in die Werkstatt des Dichters, der sich die Vollendung dieses Werkes wahrhaft sauer werden ließ. — Da die mit dem „Kirbisch” begonnene Gesamtausgabe der Verbreitung des Werkes von Anton Wildgans — doch wohl auch über Österreichs Grenzen hinaus! - - dienen soll, ist nicht einzusehen, weshalb der Verlag an Stelle der Luther-Fraktur nicht die schöne, weitläufigere Garamond-Antiqua gewählt hat, in welcher die Erläuterungen des Herausgebers gesetzt sind.

Sankt Olav. Von Sigrid U n d s ė t. Aus dem Norwegischen übertragen von M. Neuhauser. Wien, Amandus-Edition 1947.

Daß es ein bedeutendes Buch sein muß, wenn Sigrid Undset den Schutzheiligen ihres Landes, den kriegerischen Apostel des Nordens, in einem Lebensbilde schildert, das muß nicht eigens gesagt werden. Ihre einzigartige Kunst der Menschendeutung und Menschengestaltung kommt auch in dieser historischen Darstellung voll zur Geltung. Man hat aber dieses Buch wegen der Pracht gepriesen, mit der sich hier „Christliches Und Heidnisches zur blutvollen Persönlichkeit” mische — fast als ob es zu begrüßen wäre, daß hier das Heidnisch-Nordische vom Christlichen noch nicht ganz „überfremdet” wäre. Gerade weil uns die Umwelt, in der sich dies alles abspielt, so fremdartig ist, verdient besonders hervorgehoben zu werden, daß Sigrid Undset es ganz besonders versteht, zu zeigen, wie klar das Christliche, und damit auch das Abendländische, diesen Menschen als neue Lebensform bewußt geworden ist. „Bekehrung — das bedeutete nicht irgendeine Gewähr für ewigen Frieden. Die Männer dieser Zeit waren willig, die Entscheidung der Waffen hinzunehmen, im Kampf zwischen Männern und Völkern, die nicht einig werden konnten. Aber zwischen christlichen Völkern gab es da immerhin eine Gemeinsamkeit der Lebensanschauung und der Rechtsbegriffe, selbst wenn sie auf den Tod uneinig waren, wer in einem gegebenen Fall recht und wer unrecht hatte.” Zwischen den heidnischen Wikingern und den ansässigen Völkern gab es keine solche Art von Uneinigkeit. Da gab es nur Haß, Zerstörung, Beute. Denn für den Heiden gibt es nur den eigenen Stamm auf der einen und den Feind auf der anderen Seite. Klarer, eindringlicher, einfacher kann man nicht sogen, was eigentlich Heidentum, als Gesinnung, und was eine, selbst über kriegführende und gegnerische Völker sich wölbende abendländisch-christliche Gemeinschaft bedeutet — die Gemeinschaft, die der heilige Olaf mit seinem Lebenswerk und schließlich mit seinem Märtyrertod in der Schlacht bei Stiklstad im Jahre 1030 mitzubauen geholfen hat — eine Gemeinschaft, die die vergangenen Jahrzehnte nur zu oft bestrebt waren, niederzureißen und zu vernichten, und an deren Wiederaufbau unser eigenes Schicksal hängt.

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