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Zwei Männer namens Nagy...

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Ungarn hatte zwei Ministerpräsidenten mit dem Namen Nagy.

Ferenc Nagy, erster und zweitvorletzter Ministerpräsident der kurzlebigen zweiten demokratischen ungarischen Republik, weilte vor kurzem einige Tage in Wien, gerade als die offenen Unruhen im ungarischen Geistesleben im „Petöfi-Kreis“ mit einem Debakel für das kommunistische Regime und, unmittelbar nachher, mit dem Verbot der Diskussionsabende endeten. Er war damals der Meinung, daß dieser unblutigen Revolution zwar größte Bedeutung beizumessen sei, daß aber deren Erfolg erst zu einer späteren Zukunft zu erwarten sein werde. „Diese geistige Revolution behält, ob sie nun offen oder als Untergrundbewegung fortgesetzt wird, dennoch ihren beispielgebenden und bleibenden Wert. Es macht uns keine Sorge, daß dieser Kampf heute noch von kommunistischen Parteimitgliedern geführt wird. Auch Szechenyi und Wesselenyi mußten den Kampf für Reformen innerhalb ihrer Klasse beginnen, aber in den Segen der Reformen teilte sich schließlich das ganze Volk.“

Es ist seither bekanntgeworden, daß bei dem denkwürdigen letzten Diskussionsabend des „Petöfi-Kreises“ von den Teilnehmern auch eine Rehabilitierung des im Frühjahr 1955 mit Schimpf und Schande davongejagten Ministerpräsidenten Imre Nagy gefordert wurde. Dieser bisher erste Ministerpräsident der 1949 errichteten ungarischen Volksrepublik, der nach seiner Rückberufung bald auch aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde, sollte, so forderte man damals, die Chance erhalten, „seine ideologischen und wirtschaftlichen Thesen öffentlich zu erläutern“. Die Ereignisse nahmen indessen einen anderen Lauf, und zu diesem öffentlichen Auftritt des zur inneren Emigration gezwungenen Imre Nagy kam es bekanntlich nicht — noch nicht. Imre Nagy ist der Sündenbock der einen und die vage, kaum näher definierte Hoffnung der anderen geblieben.

Bei allem Unterschied der Weltanschauung, der politischen Auffassung und des Herganges gibt es einige Merkmale, die den beiden gescheiterten Ministerpräsidenten gleichen Namens, von denen hier die Rede ist, eigen sind. Heute, da der Widersacher und das „Schicksal“ der beiden, Mätyäs Räkosi, von allen seinen Aemtern entblößt, zwar rein äußerlich in Ehren, aber nichtsdestoweniger wahrscheinlich unwiderruflich gegangen ist, ist es angebracht, von den politischen Auffassungen dieser beiden „Emigranten“ zu sprechen, denn diese Auffassungen sind es wahrscheinlich, von ihnen am prägnantesten formuliert, aber nicht nur von ihnen vertreten, die Ungarns Zukunft in einer vielleicht nicht mehr so fernen Zeit wie dies heute noch scheint, bestimmen werden. Beide Konzepte weisen Züge auf, die ein Kompromiß zwischen den beiden nicht ausschließen. Unvereinbar mit der demokratischen Auffassung Ferenc Nagys, der sich hierin auf das Bekenntnis eines Abraham Lincoln und Lajos Kossuth beruft, ist das kommunistische Credo des seine Theorien im Sinne Lenins entwickelnden Imre Nagy. Als Ferenc Nagy in den Jahren 1946 und 1947 auf seinem nur nach außen hin hohen, in Wahrheit kaum noch „einflußreichen“ Posten als Ministerpräsident eines Landes mit zerschlagener Wirtschaft und darniederliegender Gesellschaft, deren politischer Wirklichkeitssinn unterentwickelt und von Illusionen und Angstkomplexen zerrüttet war, versuchte, den bei Errichtung der Republik 1946 feierlich kodifizierten Bürgerrechten Geltung zu verschaffen, war es nicht zuletzt der damalige kommunistische Innenminister Imre Nagy, der die Krise des Staates und der Gesellschaft dazu benutzte, um das kommunistische Ziel, die Errichtung der „Diktatur des Proletariates“, der Verwirklichung näherzubringen. Obwohl er — bald nach Errichtung der Diktatur, die eine Diktatur Räkosis und seiner Polizei wurde — erleben mußte, daß sei..e Theorien zur sozialistischen Umwandlung von Wirtschaft und Gesellschaft („schrittweise und mit friedlichen Mitteln“) von Räkosi nicht befolgt wurden, wartete er geduldig fünf Jahre, bis die veränderte Atmosphäre in Moskau und das Versagen des Räkosi-Kurses es ihm ermöglichten, seinerseits es im Juni 1953 mit einem gemäßigten „Neuen Kurs“ zu versuchen. Daß dieser sein Versuch bald darnach scheiterte, lag bestimmt zu einem großen Teil an der Wühlarbeit der Räkosi-Fraktion innerhalb des Zentralkomitees der Partei und in letzter Konsequenz an der Kräfteverschiebung innerhalb des Moskauer Führungskollektivs. Aber nur zu einem großen Teil. Den Rest dazu gab die innere Kraft des ungarischen. Volkes, die sich in einem steten Drang nach mehr Freiheit offenbarte. Dieses Volk verstand nicht den Sinn des „Neuen Kurses“ und wollte, wenn schon ohne Zwang, dann auch ohne Kolchosewirtschaft und Stacha-nowismus leben. Das Programm Imre Nagys enthielt aber diesbezüglich keine klaren Zusicherungen. Nagy wurde im April 195 5 von dem wieder (und noch ein letztes Mal) von Räkosi beherrschten Zentralkomitee beschuldigt, durch sein Liberalisierungsprogramm und insbesondere durch die Errichtung der „Patriotischen Volksfront“ auf eine schließliche Auflösung der Kommunistischen Partei hingearbeitet zu haben. Diese „ungeheuerliche“ Anklage führte automatisch zu seiner Enthebung und mußte ihn in den Augen eines jeden Kommunisten hoffnungslos disqualifizieren. Wenn man jedoch die Aufsätze und die gesammelten Reden dieses Mannes liest, kommt man zu einem anderen Schluß. Imre Nagy blieb ein Kommunist wie er war, denn er verfocht seine Ideen von Anfang seiner politischen Laufbahn an, da er sie aus der Lehre Lenins schöpfte. Ferenc Nagy, der Anhänger der amerikanischen Demokratie Lincolnscher Prägung, der er ebenfalls nicht erst seit gestern, seitdem er Besitzer einer Farm, im Staat Virginia wurde, ist, kann niemals mit Imre Nagy auf einen politischen Nenner gebracht werden. Was die beiden de facto verbindet, ist nicht ihr politisches Bekenntnis, sondern die mögliche Wirkung ihrer Worte und Taten. Aber in der Politik kommt es allein auf diese Wirkung an.

Imre Nagy nahm in einer tiefschürfenden marxistisch-leninistischen Analyse bereits im Jahre 1948 das Scheitern der Bauernpolitik des Regimes Räkosi vorweg, ein Scheitern, das in allen seinen Konsequenzen erst vier bis fünf Jahre später auch für den unvoreingenommenen Außenstehenden offenbar wurde. Imre- Nagy schrieb damals: „Die Schlüsselfrage unserer Bauernpolitik ist die Bundesgenossenschaft mit den Mittelbauern.“ Die Auffassung der ungarischen Parteiführung, wonach die These der marxistischen Agrartheorie über die „rasche Aufreibung des Mittelbauerntums zwischen Kulaken (Dorfkapitalisten) und Agrarproletariat“ auch auf die Verhältnisse der Volksdemokratien als Richtlinie ohne weiteres anzuwenden sei, sei falsch. Ebenso falsch sei aber die Folgerung, die die Parteiführung aus dieser .These zieht: sie behandelt die Mittelbauern trotz aller gegenteiligen Zusicherungen de facto als Kulaken, falls sie nicht bereit sind, das Los des Agrar-proletariates zu teilen und in die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zu gehen, was den Verlust ihres privaten Eigentums an Land, Tieren und Maschinen mit sich zieht. Nagy betont vor allem den tiefen Unterschied zwischen der Lage der russischen und der ungarischen Bauern vor der Kollektivisierung, indem er darauf hinweist, daß in Ungarn die privaten Formen der Landwirtschaft vorherrschten und der Sinn für das eigene Lafid bei dem ungarischen Bauern viel ausgeprägter als bei dem russischen vorhanden sei. Diese und ähnliche historisch geprägte Unterschiede seien von den Initiatoren der beschleunigten Kollektivisierung des ungarischen Dorfes mißachtet worden, was zur Panikstimmung und Erbitterung in der Bauernschaft mit allen ihren Folgen und daher unbedingt zu einem Debakel führen müsse. Das war die Meinung Imre Nagys im Jahre 1948. Der jedem realistisch Denkenden als absurd vorkommende, über alle Maße beschleunigte Ausbau der ungarischen Schwerindustrie auf Kosten des Lebensstandards der werktätigen Bevölkerung, die übertriebene, auch „wohlmeinende“ aufbauwillige Kräfte abschreckende Vormachtstellung der Partei und ihrer Organe: dies waren der weitere Gegenstand seiner Kritik. Er zitierte dabei Lenins Kritik über die deutschen „Links-deviationisten“: „ ... den eigenen Wunsch hielten sie für die objektive Wirklichkeit. Das ist der gefährlichste Fehler eines Revolutionärs.“

Wie Imre Nagy ist auch Ferenc Nagy von bäuerlicher Abstammung. „Das ungarische Volk denkt ... hauptsächlich rationalistisch. Selbst in dem einfachsten Ungarn lebt unausrottbar der Glaube an die Vernunft. Wir können es ruhig bekennen, daß unser Volk nüchtern und wohlüberlegt denkt. Es läßt sich nicht auf Unternehmungen mit zweifelhaftem Ausgang ein. Bei uns rebelliert die Vernunft, und diese Rebellion ist unbesiegbar, man kann sie nicht mit Tanks auf dem Marktplatz niederwerfen ...“ Das sind Worte von Ferenc Nagy, in denen auch eine leise Kritik von Posen, dieser Offenbarung der zur Irrationalität neigenden slawischen Seele mitschwingt. Man kann sagen, daß dieses aus gemeinsamer Herkunft her bestimmbare Seelenklima der beiden Nagys den einen von dem kalt, beinahe zynisch experimentierenden politischen Utopisten vom Schlage des kommunistischen Wirtschaftsfachmannes und heutigen Räkosi-Nachfolgers Ernö Gero unterscheidet, den anderen aber von dem Illusionen und manchmal auch nicht eben ungefährlichen Träumen nachjagenden Typ des politischen Emigranten, den man auch in den bunten Reihen der heutigen ungarischen Emigration häufig genug vorfindet.

In der gegenwärtigen Weltlage — sagte Ferenc Nagy in Wien im Laufe eines privaten Gesprächs mit dem Verfasser — fällt der Emigration demokratischer Provenienz die Aufgabe zu, ein Freiheitsprogramm auszuarbeiten, das sich die Ungarn wünschen, dessen Einzelheiten aber im Zusammenhang mit den Errungenschaften und Problemen der nichtkommunistischen Welt sie heute nicht überblicken können. „Unser Partner ist das kämpfende, seinen Weg suchende ungarische Volk.“ Es würde freilich nicht leicht sein, den Weg der Zusammenarbeit mit den daheimgebliebenen Millionen von Menschen zu finden. Ferenc Nagy versucht nun, „mit nüchternem bäuerlichen Verstand“ sich in den Dienst dieser Aufgabe zu stellen.

Auch vor zehn Jahren stand er einmal vor einem Neubeginn. Damals erhielt seine „Partei der Kleinen Landwirte“, die zwischen den beiden Weltkriegen eine Partei der Mitte war und während des Krieges stark nach, links tendierte, plötzlich starken Zulauf von konservativen und nationalen Wählern, infolge des Fehlens einer Rechtspartei. Diese psychologische und taktische Belastung hatte zur Folge, daß viele junge Intellektuelle, Schriftsteller damals auf den Gedanken kamen, einzige Garantie einer demokratischen Entwicklung sei in Ungarn nur im Bündnis mit dem Kommunismus zu suchen. Sie wurden Mitglieder oder Mitläufer der Kommunistischen Partei. Aus ihnen und ihren jüngeren Kollegen rekrutiert sich heute jenes revolutionäre Element, das von sich reden macht, aber für die Parteiführung nach wie vor eine unbekannte Größe darstellt. Damals, aber, vor zehn Jahren, sind die Kommunisten gerade darangegangen, auf ihren größeren Dynamismus und ihre ideologische Festigkeit, aber auch auf die Unterstützung der Besatzungsmacht vertrauend, ihre Einkreisungsmanöver gegenüber der ersten Regierungspartei einzuleiten. Und Ferenc Nagy sah sich bald, nach eineinhalb Jahre währender Ministerpräsidentenschaft, im Sommer 1947, während einer Urlaubsreise in der Schweiz als Emigrant: in seiner Abwesenheit wurde er bekanntlich der Teilnahme an einer „Verschwörung“ beschuldigt, worauf er begreiflicherweise es vorzog, nicht heimzukehren und sich nicht dem damals schon kommunistischen Volksgericht zu stellen. Er schrieb ein Buch und kaufte sich aus dem Erlös eine Farm in den Vereinigten Staaten. Seither betätigt er sich aber auch als „Reisender in Demokratie“.

Er bereiste mehrere Male Asien, Indien sowie den Fernen Osten, wo er stets vor seinen Vorträgen sich vor seiner mißtrauischen Zuhörerschaft zuerst als „Fortschrittlicher Demokrat“ legitimieren mußte, sonst wäre ihm der Vortragssaal bei seinem zweiten Vortrag leer geblieben. Aus Gesprächen mit den jungen Menschen Asiens schöpfte Ferenc Nagy die Erfahrung, daß die Zukunft der westlichen Demokratie gehört, wenn sie es nur versteht, sich rechtzeitig der Phantasie der jungen Menschen durch ein klares, offenes Programm zu bemächtigen. Dieses Programm soll auch dem Freiheitsstreben des ungarischen Volkes die letzte Klarheit geben. Als Hauptpunkte eines solchen Programmes schlägt Ferenc Nagy vor: Demokratische Einrichtung im Rahmen einer Republik, gesellschaftlicher Friede ohne Rachegelüste gegen Andersgesinnte, nationale Unabhängigkeit im Rahmen einer föderativen Ordnung Mittelosteuropas, zu deren Verwirklichung ein demokratisches Ungarn die Initiative ergreifen müßte, keine Klassenvorurteile, freie Wirtschaft und Landwirtschaft auf der Grundlage des Privateigentums - Schlüsselindustrien und Bergwerke müßten jedoch verstaatlicht bleiben. Die Bodenreform, die nach Kriegsende der Vorherrschaft des Großgrundbesitzes in

LIngarn ein Ende setzte, soll in Geltung bleiben und der unabhängige bäuerliche Kleinbesitz soll mit allen Mitteln der modernen Produktion gestärkt werden. Religionsfreiheit, Lernfreiheit und moderne soziale Einrichtungen: diese Forderungen stehen noch auf der Liste. Wer soll sie verwirklichen?

„Wir wollen nicht nach Hause gehen, um zu führen. Wer in seine alte Position zurückkehren will, schneidet den Weg der Heimkehr selbst vor sich ab. Aber wir wollen als einfache Ungarn, als Volk nach Hause gehen, die Sorgen, alle Lasten des Wiederaufbaues teilend, unsere Erfahrungen und internationalen Beziehungen jenen, die das ungarische Volk zur Führung wählt anbietend.“ Soweit der politische Emigrant Ferenc Nagy. Sein Namensvetter Imre Nagy schweigt, verharrt in der inneren Emigration, aber auf ihm ruhen die Blicke einer kommunistischen Jugend, die sich in der wohl paradoxen Rolle der „heimatlosen Linken“ unwohl fühlt und noch zu manchen Taten bereit wäre, wenn die Stunde dazu reif wird .. . Gelingt es Ferenc Nagy, diese Blicke auf sich zu lenken und, noch mehr, die unstet herumschweifenden Blicke der hunderttausenden, Millionen Suchenden in den ungarischen Städten und Dörfern von der Ferne auf sein demokratisches Programm zu vereinen? Auf diese Frage konnte er im Sommer 1956 keine Antwort geben ...

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