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Zweimal Hitler

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Hitler. (Eine Studie über Tyrannei.) Von Alan Bullock. Droste-Verlag, Düsseldorf, 838 Seiten. — Adolf Hitler, mein Jugendfreund. Von August Kubizek. Leopold-Stocker-Verlag, Graz. 352 Seiten.

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Hitler. (Eine Studie über Tyrannei.) Von Alan Bullock. Droste-Verlag, Düsseldorf, 838 Seiten. — Adolf Hitler, mein Jugendfreund. Von August Kubizek. Leopold-Stocker-Verlag, Graz. 352 Seiten.

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Zunächst stellt sich für den Rezensenten die wichtige Frage, ob eine objektive historische Bewertung Hitlers jetzt bereits möglich ist. Der englische Historiker Bullock, der als Professor an der Universität Oxford lehrt und nach 1945 Zutritt zu den alliierten Beutedokumenten hatte, machte diesen kühnen Versuch. Ein Versuch, denn das Phänomen Hitler, von dem Bullock selbst .sagt, daß es ebenso ein europäisches als ein deutsches gewesen sei, kann nur mit Aufwand der strengsten kritischen Quellenforschung und unter gleichzeitiger Befragung aller noch lebenden Augenzeugen festgehalten werden. Es muß dies geschehen, auch wenn man die Zeitgeschichte in manchen Polizeihauptquartieren des In- und Auslandes noch immer als eine Wissenschaft obskurer Art betrachtet und man vorsichtshalber bei Vorträgen den berühmten, gutgetarnten Spitzel entsendet.

Damit seien die Schwierigkeiten angedeutet, die nun einmal entstehen, weil naturgemäß, wie das Beispiel des verbotenen und nunmehr wieder erlaubten Hitler-Films zeigt, aus dem Bodensatz der Sentiments und Ressentiments Giftschwaden auftauchen können, die die wirklichen historischen Leitlinien zu vernebeln trachten.

Bullock hat mit der nüchternen und unerhört genauen Präzision des geschulten Historikers das Bild Hitlers gezeichnet, vom Beginn als Sohn eines österreichischen Zollbeamten bis zum Ende in der Reichskanzlei. Seine Quellenbasis ist, was die Dokumente betrifft, die herkömmliche vom Stand des Jahres 1951. Die außerordentlich wichtigen Forschungen, welche Jetzinger vorbereitet, ebenso wie die vom Institut für Zeitgeschichte in München gefundenen Teilfragmente zur Geschichte des 30. Juni 1934, die zur Ermordung Schleichers führten, sowie die Geheimrede Himmlers zum 20. Juli 1944 konnte der Verfasser nicht mehr benützen. Auch das später zu besprechende Buch von Kubizek, dessen Wert als Quelle kaum bestreitbar ist, ist noch nicht berücksichtigt.

Es zeigt sich am Beispiel von Bullock, daß die Grundlage jeder Hitler-Biographie auch heute noch das fast vergessene Werk von Konrad Heiden ist. Weitgehend folgt Prof. Bullock diesem Werk, das seinerzeit auf Grund genauer Forschungen, vor allem auch in Oesterreich, entstanden ist. Ferner hat sich manches in der Flut der Erinnerungsliteratur fast untergegangene Buch, wie die Aufzeichnungen von A. Zoller (hinter denen auch nach Prof. Bullocks Ansicht die Privatsekretärinnen Hitlers zu vermuten sind), als eminent wichtige Quelle erwiesen, wie auch endgültig die Gespräche Hitlers mit Rauschning (veröffentlicht 1940!) als gespenstige Vorschau der Götterdämmerung der deutschen Katastrophe angesehen werden muß.

Was Bullock sowie alle künftigen Hitler-Bio-

graphen die Arbeit unendlich erschwert, ist der Mangel jeder persönlichen Aufzeichnungen oder Briefe Hitlers, die jener vorsichtshalber vernichten ließ. Damit erweist es sich notwendig, das Problem der Primärquellen durch Befragung der Lebenden besonders zu unterstreichen und vor allem darauf hinzuweisen, daß Bullock es unterlassen hat, zwei der noch lebenden Chefadjutanten, nämlich Brückner und Schaub, ausführlich heranzuziehen, wie überhaupt die Scheu der direkten Befragung,-soweit sie nicht auf dem Umweg über den Nürnberger Prozeß erfolgte, ein Mangel des Buches ist. Ebenso weisen die Oesterreich betreffenden Kapitel nicht nur Namensverschreibungen und kleinere Unrichtigkeiten auf, sondern würdigen in keiner Weise die ungeheuer schwierige politische Position der Regierung Dollfuß in ihrem Abwehrkampf.

Was die Biographie Bullocks so lesbar macht, ist die wie in einem Guß fortgeführte Erzählung, von der man fast sagen könnte, sie sei distanziert und betrachte Hitler wie ein Phänomen aus grauer Vergangenheit. Darin liegt ein großer Vorteil. Leidenschaftslos kommt Bullock etwa zu dem offensichtlich richtigen Schluß, daß ein Einordnen der Hitler eigentümlichen Fähigkeit, die Masse zu bewegen und mit einem Ersatzglauben zu erfüllen, in der entchristlichten Epoche nach 1919 eine Realität war, die überhaupt nicht verstanden werden könnte, so man nicht die soziologischen und geistigen Grundlinien der mitteleuropäischen Katastrophen seit 1918 zu verstehen gewillt ist. Bullocks Auseinandersetzung mit Hitler ist deshalb keine echte und innere, weil er bewußt „beschreibt" und nur sparsam auf die geistesgeschichtlichen Hintergründe eingeht. Besonders tritt dies bei einem für die englische Geschichtsschreibung so profunden Mißverstehen der ganzen Situation der Habsburgermonarchie und ihres Nationalitätenproblems, welches den jungen Hitler aus dem Urgrund des Schönerianertums zum Hasser von Habsburg und Kirche formte, zutage. Gerade zu diesem Abschnitt liefert das folgende Werk von Kubizek mehr als deutliche Hinweise. Bullocks Werk ist bei der Schilderung der Innenpolitik, vor allem auch der Kirchenpolitik, etwas zu dünn, und es fesselte den Verfasser offenkundlich der Außenpolitiker und besonders der Stratege des wahnwitzigen Angriffskrieges gegen Europa in der Figur Hitlers mehr als die Politik im Innern, die nach Hitlers eigenen Gedanken den Menschen seiner Zukunft auf Grund des Irrglaubens einer vom Darwinismus stark beeinflußten Rassenideologie schaffen sollte. Für die Kriegsereignisse, vor allem die sogenannte Feldherrnbegabung, fand Bullock reichliche Quellen in den vielen Streit-Schriften und Dokumenten seit 1945 und zieht den Schluß, daß trotz der engen Bindung, die Hitler Zeit seines Lebens als Werkzeug und später als Handelnder immer zur Reichswehr hatte, seine strategischen Ideen sowie die Entartung der Kriegführung mit den herkömmlichen Auffassungen seines Generalstabs nie übereinstimmen konnte. Wie aber bereits in diesen Blättern vor Jahresfrist in der Rezension der ersten deutschen Hitler- Biographie von Görlitz-Quint angedeutet wurde, hatte sich der Generalstab unter dem geistigen Diktat der monströsen Ludendorffschen Lehre vom totalen Krieg einem zukünftigen anonymen „Feld- herrn-Politiker”, der „aus der Masse aufsteigen würde", geistig ausgeliefert.

Die Bullöcksche Darstellung wird einen Beginn der wissenschaftlichen Diskussion um Hitler mit einleiten und für viele Historiker noch auf Jahre hinaus die Grundlinien einer möglichen Biographie angeben. Die laufende Erschließung der Quellen, die in einer unendlichen Kleinarbeit gefunden werden müssen, wird allmählich die Konturen des noch verschwommenen Porträts Hitlers festlegen.

Als Quelle ist auch das Buch von K u b i z e k für den Historiker zu betrachten und daher wichtig. Es sei aber vorweg betont, daß dieses Buch eine Gefahr darstellt. Allzuleicht kann .aus der naiven und kritiklosen Aufzeichnung des einstigen Jugendfreundes Hitlers in bestimmten Kreisen daraus eine Apologie mit Fernwirkungen werden. Es wäre deshalb verdienstvoll gewesen, Kubizeks Aufzeichnungen mit einem entsprechenden Kommentar zu versehen, was leider nicht geschehen ist, obwohl seinerzeit bei der Herausgabe der sogenannten „Tischgespräche" eine ähnliche Problematik zutage trat. Es sei nicht geleugnet, daß die Jugendentwicklung jedes Menschen entscheidend für das spätere Leben ist. In August Kubizek, dem pensionierten Stadtamtsdirektor von Eferding, sehen wir jetzt vor uns den Jugendfreund Hitlers, der in Linz und Wien einen entscheidenden Lebensabschnitt mit Hitler gemeinsam verlebte. — Nebenbei bemerkt, ist der spätere Beamte Kubizek der Juniorerbe eines Linzer Tapezierergeschäftes gewesen und bildet damit vielleicht die Wurzel zu der historischen Legende des ,,'J'apezierergesellen" Hitler; denn nicht dieser, sondern sein Jugendfreund hat ursprünglich dieses an sich durchaus ehrenhafte Gewerbe ausgeübt, ehe er unter Hitlers Fürsprache nach Wien als Musikstudent gehen konnte.

Was Kubizek in seinen Erinnerungen einfängt, 1st in der photographisch-getreuen und naiven Form der Darstellung quellenmäßig von höchstem Wert und daher bewußt unkritisch. Die erste Begegnung mit dem extatischen jungen Hitler, der keinen Brotberuf ausübt und dabei von der Waisen- und Witwenrente seiner dahinsiechenden Mutter lebt, erfolgte in Linz, in der versponnenen Provinzstadt mit ihrer Hinneigung zur liberal-großdeutschen Tendenz des Schönerianertums, diesem Linz, in dem Kubizek und Hitler gemeinsam Richard Wagner erlebten. Kaum besser als aus Kubizeks Erinnerungen könnte man den Einfluß der Wagnersehen Musikideologie und der auf altdeutsch zurechtgemachten Attrappenmythologie besser erfassen als aus diesen Zeilen, die bis zu einem gewissen Grad auch Hitlers Jugenderlebnis darstellen. Nicht zuletzt hat Kubizek die romantisch-historischen Schlußszenen seiner Wiederbegegnung aus dem Jahre 1938 und 1940 mit seinem nunmehr so groß gewordenen Jugendfreund eindringlich geschildert. Richard Wagner ist wieder der Segnende dieses Freundschaftsbandes, dessen Höhepunkt ein Händedruck zwischen dem allmächtigen Kanzler und dem kleinen unbekannten Beamten am Grabe des Meisters gewesen war, während im Hintergrund die Marschkarten des Angriffes gegen Europa entfaltet wurden. Bände spricht das Verhältnis des jungen Hitler zu Alt-Oesterreich; der Verfasser kann nicht leugnen, daß die Abneigung des geborenen Schönerianers in Hitler ihn zu jenem Schritt verleitete, der heute durch die seriöse Forschung als glatter Entzug von der Wehrpflicht innerhalb der k. u. k. Armee gewertet werden muß und dessen dokumentarische Unterlagen erst in jüngster Zeit bekannt wurden. Im gesamten gesehen, sind Kubizeks Aufzeichnungen weitaus wertvoller als alle bisherigen „Enthüllungen" mancher, die dem jungen Hitler nahegestanden sein wollen, bedürfen allerdings einer klaren wissenschaftlichen Auswertung und Kritik, weil sie von einem Naivling, den sein einstiger Jugendfreund „in politicis" noch mit schärferen Ausdrücken belegte, aufgezeichnet wurden und darüber hinaus unbewußt eine einmalige Quelle- zu der geistigen Haltung des Schönerianertums der Vorkriegsjahre bilden, dessen negative Einstellung zu Alt-Oesterreich mit eine der Hauptursachen der mitteleuropäischen Katastrophen von 1918 und 1939 bildete. Als den nach den Sternen greifenden Diktator die Schicksalsschläge beugten, hätte er am liebsten Alt- Oesterreich als Repräsentanten jenes Staates, den er laut Kubizek bis ins Herz hinein haßte, zur Verteidigung seiner Außenpositionen eingesetzt. Darüber mögen die Zeitgenossen nicht nur im Guido-Schmidt-Prozeß einiges nachlesen; sie mögen dabei auch ein wenig über die Tragödien Löhr, Glaise-Horstenau, Phleps und anderer nachdenken.

Fazit des Werkes: als Quelle hochinteressant, für die kornblumenblau getrübten Gemüter eine Gefahr.

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