Pilgern – tiefe Sehnsucht nach heiligen Orten

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Heuer fällt der Festtag des Hl. Jakobus am 25. Juli auf einen Sonntag: In Santiago de Compostela wird daher 2010 als heiliges Jahr begangen, in dem Millionen Pilger, am 6. November auch der Papst, anreisen werden. Trotz aller Folklore, die den Jakobsweg und den Wallfahrtsort auch umgibt: Ziel von Pilgerreisen ist das religiöse und persönliche Wachstum.

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Heuer fällt der Festtag des Hl. Jakobus am 25. Juli auf einen Sonntag: In Santiago de Compostela wird daher 2010 als heiliges Jahr begangen, in dem Millionen Pilger, am 6. November auch der Papst, anreisen werden. Trotz aller Folklore, die den Jakobsweg und den Wallfahrtsort auch umgibt: Ziel von Pilgerreisen ist das religiöse und persönliche Wachstum.

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Pilgerreisen begeistern heute mehr Menschen als noch vor wenigen Jahren, und doch bleiben sie vielen anderen fremd. Bei Wallfahrten denkt man auch an mittelalterliche Exzesse und reformatorische Kritik, an Ablässe und Luthers Polemik gegen religiös verbrämte Beutelschneiderei. Gleichzeitig ist der religiöse Tourismus in vielen Ländern ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Das vorchristliche Judentum kannte mehrere Wallfahrtsfeste, deren Ziel Jerusalem war. Der Wunsch, die heiligen Orte des Christentums zu sehen, kam bereits in den ersten Jahrhunderten der Kirche auf. Das Christentum gedenkt historischer Ereignisse und misst ihnen Heilsbedeutung zu. Die liturgische Vergegenwärtigung dieser Ereignisse dürfte bei der Entstehung des Pilgerwesens eine große Rolle gespielt haben. So erwähnt beispielsweise ein Lied aus der Wiener Papyrussammlung (P. Vindob. G. 19934) den Besuch der Magier bei dem Kind in der Krippe und fordert die Gläubigen auf, zusammen mit den Magiern zur Krippe zu treten, um Gaben zu bringen und geistliche Gaben zu empfangen. Die Vorstellung, dass dies in besonderer Weise an den entsprechenden Orten gelingen kann, ist verständlich.

Das älteste Handbuch für christliche Pilger ist das sogenannte Intinerarium Burdigalense aus dem Jahr 333 mit der Wegbeschreibung von Bordeaux nach Jerusalem. Die Reise führte damals auf dem Landweg von Südfrankreich über Norditalien, den Balkan, Kleinasien und Syrien und von dort weiter nach Palästina. Der Text enthält wie moderne Reiseführer einerseits Angaben über Entfernungen, Verkehrsmittel — damals ging es um die Frage der Stationen für den Pferdewechsel — und Unterkünfte und andererseits Informationen über die Sehenswürdigkeiten des Heiligen Landes, wobei als christliche Stätten vor allem die Stätten aus Jerusalem und der Umgebung erwähnt werden. Auf der Rückreise wird ein Teil des Weges zur See zurückgelegt. Es werden also alternative Routen angeboten.

Die spanische Pilgerin Egeria bereiste Ende des vierten Jahrhunderts mit der Bibel in der Hand die heiligen Stätten. Der Bericht gibt Zeugnis von der spirituellen Komponente dieser Reisen: Man wollte „zur rechten Zeit und am richtigen Ort“ die heiligen Geheimnisse feiern. Es ging dieser Frau darum, mit der weiten Reise — so galt das spanische Cádiz als das sprichwörtliche westliche Ende der besiedelten Welt — eine religiöse Erfahrung zu machen. Sie beschreibt eindrücklich die Liturgie vor allem der Festtage. Manches zeugt dabei von der teils auch etwas übertriebenen Frömmigkeit der Pilger. So hatte ein Diakon bei der Kreuzverehrung eine wichtige Aufgabe: Er musste darüber wachen, dass das Kreuz nicht zu innig geküsst wurde, da dabei bereits Splitter des Kreuzes abgebissen und als Reliquien mitgenommen worden waren.

Wo die historischen Bezüge fehlen, hilft die Legende. Dem Bericht der Apostelgeschichte nach (Apg 12,1-2) wurde der Apostel Jakobus, der Bruder des Johannes (Mt 20,20-22), in Jerusalem im Jahr 44 durch das Schwert hinrichtet. Der Leichnam gelangte auf wunderbare Weise (er wurde von den Jüngern nächtens heimlich entwendet und auf ein von Engeln geführtes Schiff gebracht) nach Spanien. Diese Legende begründet die Verbindung des in Jerusalem hingerichteten Heiligen mit den Stätten am anderen Ende des römischen Reiches.

Eigentliches und Ablenkungen des Pilgerns

Religiöse Erfahrung und Versuchung zu unerwünschtem Verhalten können bei Pilgerfahrten eng beieinanderliegen. So finden sich bereits bei Kirchenmännern des 4. Jahrhunderts die Mahnungen, dass sich das Eigentliche der Pilgerreise ohne die Ablenkungen der Fahrt besser bewerkstelligen lasse. Die Reise zu den heiligen Stätten steht ja immer auch symbolisch für die Reise ins eigene Innere. Und hier sind die Gefahren und Ablenkungen der Reise nicht immer förderlich. Reisen war gerade in der Antike gefährlich. Davon berichten die biblischen Geschichten. Ein Schiff konnte in Seenot geraten, es sei nur auf den Schiffbruch des Paulus verwiesen (Apg 27,13-44). Der Landweg war nicht weniger gefährlich. Die Parabel vom barmherzigen Samariter zeigt, wie sehr Wegelagerer und Räuber gefürchtet wurden (Lk 10,25-36).

Doch auch moralische Gefahren lauern. Bereits im Alten Testament ist im Buch Josua die Verbindung von Beherbergungsbetrieben und käuflicher Liebe bezeugt: „Josua aber, der Sohn Nuns, sandte von Schittim zwei Männer heimlich als Kundschafter aus und sagte ihnen: Geht hin, seht das Land an, auch Jericho. Die gingen hin und kamen in das Haus einer Hure, die hieß Rahab, und kehrten dort ein.“ (Jos 2,1). Diese Verbindung stellte auch eine Gefahr für Pilger dar, widerspricht doch der Kauf sexueller Dienstleistungen eindeutig dem Ziel spirituellen Wachstums.

Die unter dem Namen Legenda Aurea bekannte Sammlung legendarischer Berichte aus dem 13. Jahrhundert berichtet von den katastrophalen Folgen eines derartigen Fehltritts eines Jakobspilgers: Nach der sexuellen Verfehlung sei dem Jüngling aus Lyon im Traum der Teufel in Gestalt des Jakobus erschienen und habe den Jüngling aufgefordert, sich selbst zu entmannen und danach umzubringen. In seiner Verzweiflung folgt der junge Mann dem Rat des Traumgesichts, er entmannt sich und sticht sich danach das Schwert durch den Leib. Seine Begleiter, als sie den Selbstmord bemerken, ergreifen die Flucht, um nicht des Mordes an ihrem Gefährten beschuldigt zu werden. Bei der Beerdigung erwacht der Selbstmörder wieder zum Leben und berichtet von seinen Erlebnissen im Jenseits: Der heilige Jakobus habe den Teufel wegen seiner Arglist gescholten und seine Seele wieder mit dem Leib vereint — eben das könne man ja sehen. Von den Ereignissen seien, so wird weiter berichtet, nur die Narben geblieben.

Pilgerfahrten sind also ambivalent: Man warnt vor Ablenkungen, Irrwegen und Gefahren. Gleichzeitig ist das Ziel der Pilgerreise das religiöse und persönliche Wachstum. Und: Wirkliches Wachstum und Reifen ist ohne Mühe und Risiko nicht zu haben. Deswegen nimmt Paulus auch die Sportler als Beispiel (2 Tim 4,7).

Der Autor arbeitet in einem vom Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Projekt an der Uni Wien an koptischen Handschriften.

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