Plädoyer für den Stammtisch

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Noch 1975 gab's in Österreich nahezu 18.000 Wirtshäuser, heute sind's nicht einmal mehr 13.000. Dafür hat sich die Zahl der Imbißstuben und Würstelstände in diesem Zeitraum - mit rund 12.500 Betrieben - beinahe verdoppelt. In unseren schnellen Zeiten haben viele nur mehr Zeit fürs Fast-Food. Wir sind eben alle Kinder unserer Zeit - im Streß, gehetzt, in Eile. Trotzdem lohnt es, sich auf die Suche zu machen nach den "echten" Wirtshäusern.

Um zumindest ab und zu dort einzukehren und sich gleich daheim zu fühlen, beim ersten Schritt über die Schwelle. Um persönlich zu werden: Das Wirtshaus ist auch ein Stück meiner Geschichte.

Zu sagen, ich wäre im Wirtshaus groß geworden, wäre nicht richtig. In unserer Familie gab's weder Wirt noch Wirtin. Aber es gab Wirtshausgeher: Die Eltern, die Großeltern, die Freunde der Familie. Man traf sich damals, Ende der fünfziger-, Anfang der sechziger Jahre im Wirtshaus, weil die Zimmer-Küche-Wohnungen einfach zu klein waren, um Geselligkeit zu pflegen. Das "Wohnzimmer der kleinen Leute" hat man das Wirtshaus genannt - und ich habe die Zeit miterlebt, wo dieses gemeinschaftliche Wohnzimmer gegen das "eigene", private eingetauscht wurde.

Trotzdem - oder gerade deshalb - hat das Wirtshaus einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ein Wirtshaus erkennt man blind. Ein Schritt über die Schwelle, und da ist dieser charakteristische Geruch von altem Holz, kaltem Rauch, Bier und Wein. Der Wirtshausgeruch ruft bei mir aber nicht nur kulinarische Erinnerungen hervor - obwohl sich dem Kind bestimmt auch der Anblick der Schankvitrine eingeprägt hat mit Riesenschnitten, "Betthupferln" und Ein-Schilling Bensdorp, die grünen mit Nuß, die blauen nur Schokolade. Was den Menschen am meisten packt - auch den, der sich an seine Kindheit erinnert - sind andere Menschen. Im Wirtshaus riecht es nicht nur nach Hopfen, Malz und Haussulz, da liegt die Gegenwart all jener in der Luft, deren Schritte die Fußbodenbretter geschwärzt haben, auf dem Weg zum Stammtisch, zur Sparvereinssitzung oder aufs Pissoir.

Heute geht man allzu oft nur noch zum Essen ins Wirtshaus - weshalb sich viele Wirtshäuser sang- und klanglos in "Restaurant" umbenannt haben. Sicher, das Wirtshaus ist - auch - der Ort des Essens und Trinkens. Aber es ist noch viel mehr. Das Wirtshaus ist so alt wie die menschliche Zivilisation, und es ist - neben dem Marktplatz - einer der ältesten Orte des privaten und öffentlichen Austausches.

Manche Funktionen haben bis heute überlebt: In den ländlichen Gegenden wird dort auch noch heute Obdach für die Nacht geboten, das "Preisschnapsen" erinnert an dunklere Seiten der Wirtshauskultur. Einst war das Wirtshaus auch der Ort des Lasters, der käuflichen Liebe, auch von Verbrechen und Exzeß. Am Wirtshaustisch wurden Haus und Hof verspielt und der Wochenlohn versoffen. Das Wirtshaus hat auch seine Abgründe - schließlich ist es ja die ganze Welt im Kleinen.

Und das Wirtshaus war - und ist - auch Ort der öffentlichen Meinung. Im Wirtshaus wurden Parteien gegründet, Verschwörungen ausgeheckt, Wahlen gewonnen und verloren. Nicht von ungefähr gab es strenge Beschränkungen des Wirtshausbesuchs: Der Vater war für den Sohn verantwortlich, der Herr für seinen Knecht. Seine Zeit im Wirtshaus zu verbringen war ein Privileg. Und manche, die es wissen müssen, meinen, dieses sollte heute wieder höher geschätzt werden.

"Die Politiker sollten wieder mehr ins Wirtshaus gehen und sich anhören, was die Leute am Stammtisch so reden", sagt Werner Renner, Nußdorfer Gastwirt mit Leib und Seele und Altwiener Tradition. Heute hat "Stammtischgerede" nur einen negativen Klang, doch 1994 veröffentlichte das angesehene Allensbacher Institut eine Untersuchung, die belegte, daß an den Stammtischen zumindest nicht mehr, wahrscheinlich sogar weniger "ewiggestrige" Ideen geäußert werden als anderswo. Der Volksbildner Willibald Nagel, ein Freund Peter Roseggers, schlug sogar vor, das Wirtshaus gezielt zur geistigen und moralischen Schulung der Landbevölkerung zu nutzen. Die Idee hat sich zwar nicht wirklich durchgesetzt, dennoch finden auch heute populärkulturelle Aktivitäten im Wirtshaus statt.

Und gegebenenfalls erzeugen die sogar Wirtspersönlichkeiten. "Der âGoldene Hirsch' hat mich schon als Kind fasziniert. Da sind Sonntag vormittag immer die Eisenbahner zusammengekommen und haben ihre Zwerghenderln, Tauben und Kaninchen verkauft und getauscht, das war für mich natürlich furchtbar interessant. Und als ich erfahren habe, daß das Gasthaus zu verkaufen ist, habe ich gewußt: Das muß ich haben!" Edith Nürnberger wurde erst mit 40 Wirtin, und sie führt keine unpersönliche "Gaststätte", kein geschäftiges Restaurant. Bei ihr ist vieles - wenn nicht alles - wie annodazumal. Da gibt's einen Sparverein, einen Blasmusikverein, den Club der Radiobastler und den Verein der Kropftaubenzüchter, die Freunde von Kanarienvogel und Wellensittich sind regelmäßig zu Gast. Die Wände des Extrazimmers schmücken Ölgemälde von leibhaftigen Rittersleuten: Die Tradition der "Ritterschaft vom Güldenen Humpen" reicht ungebrochen bis ins Jahr 1864, heute treffen sie einander in der "Hirschenburg". Im "Goldenen Hirsch" in Penzing lebt vieles, was das Wirtshaus einst war: Man fühlt sich zurückversetzt in eine Zeit, als "sich unterhalten" noch "miteinander reden" bedeutet hat.

Und die Wirtin hat auch einiges zu sagen: "So ein Gasthaus zu führen, ist heute kein Vergnügen. Du bist rund um die Uhr im Einsatz, und die steuerlichen Abgaben sind enorm. Gleichzeitig gehen immer weniger Leute ins Wirtshaus. Früher sind die Angestellten von der Elin essen gekommen, heute gibt's dort eine Werksküche."

Das Wirtshaussterben hat viele Gründe. Daß der steigende Wohlstand ab den Wirtschaftwunderjahren die Sozialstruktur in den Städten grundlegend veränderte, ist nur einer davon. Der technische Fortschritt brachte Fernsehapparat, Telefon, Auto, Tourismus. Statt zum Stammtisch ging's erst nach Jesolo und geht's heute auf die Malediven - vor diesem "großen" Horizont ist das Interesse am Geschehen in der Nachbarschaft immer mehr verblaßt. Doch nicht nur vom Wirtshaussterben, sondern auch von Isolation, Vereinsamung und dem Verlust des Sozialen ist heute die Rede - und das kann kein Zufall sein.

Daß auch im Telekommunikationszeitalter ein Bedarf an Wirtshäuslichem besteht, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß es sogar im Internet "Stammtische" gibt. Bei solch vernetzten Zusammenkünften fehlt allerdings Wesentliches: das Essen, das Trinken und die Körpersprache. Zusammensitzen ist nun einmal etwas anderes, als über Draht oder Satellit zu kommunizieren.

Jüngsten Beobachtungen zufolge sollen die "echten" Stammtische denn auch wieder auf dem Vormarsch sein - und die ursprünglich männlich dominierten Wirtshauszusammenkünfte werden immer häufiger durch gemischtgeschlechtliche oder richtige "Weiberrunden" ersetzt. Die Wirtshausgeselligkeit hat zum Glück ein zähes Leben.

"Erlebnisgastronomie" scheint vielen Standesvertretern als Ausweg aus der Wirtshaus-Misere. Statt steirisch mexikanisch, statt Krautfleisch lieber Sushi. Sicher, wir alle mögen's heute international, aber was bringt der Duft der großen weiten Welt, wenn einem die Wurzeln fehlen? Und welches Erlebnis ist wirklich besser als das der Gemeinschaft?

"Im Wirtshaus bin ich wia z'haus, bei mia z'haus bin ich nia z'haus!" - so extrem muß es ja nicht gleich kommen. Etwas mehr Wirtshausgemütlichkeit würde uns aber allen gut tun.

Andrea Dee ist freie Journalistin und Buchautorin. Gemeinsam mit "Bier-Papst" Conrad Seidl verfaßte sie das Buch Ins Wirtshaus! Von Gästen, Wirten, Stammtischrunden Verlag Ueberreuter, Wien 1997 206 Seiten, öS 498,

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