Plädoyer für kalten Blick

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Michel Houellebecq bürgt für Skandale. Der Franzose, der bereits mit seinen Romanen "Ausweitung der Kampfzone" und "Elementarteilchen" für Aufregung gesorgt hat, bedient auch in seinem jüngsten Werk "Plattform" die Erregungsmaschine der Mediengesellschaft mit höchster Präzision. Da findet doch tatsächlich einer Sextourismus super und den Islam idiotisch: Ein gefundenes Fressen für die Hüter der politischen Korrektheit, deren Spezialität ja darin besteht, aufzudecken, was nie verborgen war.

Dass Houellebecq sowohl von links als auch von rechts angegriffen wird, muss natürlich kein Beweis dafür sein, dass er Recht hat. Es ist zunächst nur ein Hinweis darauf, dass er für eine neue Sicht auf die Welt steht. Dieser kalte Blick des unappetitlichen Franzosen - seine Art, Zigaretten regelrecht zu fressen, ist wirklich grauslich - führt an allen Enden des politischen Spektrums zu fortgeschrittener Beunruhigung. Gute Katholiken sind - abgesehen davon, dass alle zwei Seiten masturbiert und kopuliert wird - auch von Sätzen wie dem folgenden schockiert: "Am Sonntagmorgen spazierte ich ein wenig im Viertel umher. Ich kaufte ein Rosinenbrötchen. Es war ein milder Tag, aber ein wenig traurig, wie oft die Sonntage in Paris; vor allem, wenn man nicht an Gott glaubt." Und die in die Jahre gekommenen Revolutionäre der sechziger Jahre wollen und können ihm nicht verzeihen, dass er mit beißendem Spott die Verlogenheit geißelt, mit der sie seinerzeit ihre höchst privaten feuchten Fantasien als zwingende Notwendigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts ausgaben.

Dabei stellen sich der brave Bürger, der alte Linke und der rabiate Houellebecq ja dieselbe Frage: Wie die Leere füllen, die der Siegeszug des Fortschritts hinterlassen hat? Was tun angesichts der vollständigen Ökonomisierung des Menschen, der auch die Sexualität längst überantwortet wurde? Die Antworten reichen vom Pastoralterrorismus diverser Sektierer bis zum Soziologengeschwätz linker Moralwärter. Angesichts solcher Alternativen entwickelt der Wort gewordene Lebensmüll, den Houellebecqs kalter Blick zu Tage fördert, fast so etwas wie die Strahlkraft einer Verheißung.

Michael Fleischhacker ist stellvertretender Chefredakteur der "Presse".

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