Planerische Vergangenheitsbewältigung

19451960198020002020

Seestadt Aspern: Nach Jahrzehnten banaler Stadterweiterung versucht sich Wien endlich wieder in ganzheitlichem Städtebau. Das Projekt zeigt lang erwartete Fortschritte in der Stadtentwicklung, aber auch einige Fehltritte. Teil 3 der Serie "Wachstum der Städte".

19451960198020002020

Seestadt Aspern: Nach Jahrzehnten banaler Stadterweiterung versucht sich Wien endlich wieder in ganzheitlichem Städtebau. Das Projekt zeigt lang erwartete Fortschritte in der Stadtentwicklung, aber auch einige Fehltritte. Teil 3 der Serie "Wachstum der Städte".

Werbung
Werbung
Werbung

"Die Seestadt Wiens wird vieles sein", verspricht die Aspern Development AG in einer ihrer Broschüren: "Stadt und Natur, alternative Energie und moderne Architektur, innovative Stadthäuser statt anonymer Wohnblöcke, Erdgeschosse mit Geschäften und Lokalen statt Mononutzung, gestalterische Qualität statt Beliebigkeit." Womit präzise umrissen wäre, was Wiens Neubauvierteln der letzen 30 Jahre alles fehlt. Dass nun vieles besser werden soll, ist freilich nicht nur der Erkenntnis bisheriger Mittelmäßigkeit, sondern auch einer gewissen Not geschuldet. Denn nachdem die Stadt das 240 Hektar große, ehemalige Flugfeld am Nordostrand Wiens kurz nach der Ostöffnung angekauft hatte, das erwartete Bevölkerungswachstum zunächst aber ausgeblieben war, sträubten sich die Wohnbauträger jahrelang, den abgelegenen Standort zu besiedeln. So sah sich das Rathaus gezwungen, den drohenden Ladenhüter Aspern mit deutlich mehr Aufwand als sonst zu entwickeln: mit einem U-Bahn-Anschluss, der schon vor den ersten Wohnhäusern fertig war; mit einem neu geschaffenen See samt Park; mit einer mehrheitlich öffentlichen Entwicklungsgesellschaft, die vom Projektbeginn bis zur geplanten Fertigstellung 2030 die Verantwortung für das Werden der Satellitenstadt trägt - sowie durch die medienwirksame Eventisierung des "Zukunftsstadtteils" für dereinst 20.000 Bewohner und 20.000 Beschäftigte.

Ein, zwei Jahre nach Errichtung der ersten 2900, mehrheitlich geförderten Wohnungen samt Nahversorgung und Schule sowie zweier Gewerbekomplexe ist der Unterschied zu anderen Neubauvierteln augenfällig. Hier wurde nach langer Zeit wieder einmal Städtebau statt bloß Siedlungsbau betrieben. So sind die Hauptstraßen keine Verkehrsschneisen, sondern das stadträumliche und kommerzielle Rückgrat der Seestadt - allen voran die Maria-Tusch-Straße: Der Boulevard bietet auch Autos Platz, ist vor allem aber ein urbaner Freiraum mit Aufenthaltsqualität. Beidseitig sind die großzügigen Erdgeschoße von Händlern, Dienstleistern und Gastronomen genutzt, und das in einer für Wiens Neubaugebiete unüblichen Vielfalt: Im Zuge der Grundstücksvergabe verpflichtete die Aspern Devlopment AG auf Basis eines Nahversorgungskonzepts die Bauträger, maßgeschneiderte Erdgeschoßzonen zu errichten. Die Entwicklungsgesellschaft übernahm die Ladenflächen für mindestens zwölf Jahre und gab sie an interessierte Betreiber weiter - wobei sich die Mieten nicht nach dem Marktwert der Lokale richten, sondern danach, was die erwünschten Branchen zahlen können.

Defizite zeigen sich dagegen in den Innenbereichen vieler Wohnblöcke: Seit Jahren ist es in Wien en vogue, die Blockrandbebauung aufzubrechen, um eine höhere Durchlässigkeit zu erzeugen, ohne dass die Vor-und Nachteile je ernsthaft diskutiert wurden. Unbestritten verlieren die Grünhöfe dadurch ihren geschützten Charakter und werden Teil des Stadtraums. So braucht es bei jenen Blöcken, wo sich eine Garage oder ein Supermarkt unter dem Innenhof verbergen, aufwendige Treppen und Rampen, um den Niveauunterschied zur Straße zu überwinden. Dies kostet nicht nur Geld, sondern auch einen Teil des knappen Grüns. Die Gebäudekubaturen, die an den Öffnungen des Blockrands verloren gehen, werden meist durch Verbauung des Blockinneren wieder kompensiert -was den Grünraum noch weiter beschneidet und oft indiskutable Belichtungssituationen zwischen den freistehenden Baukörpern erzeugt: Manche Asperner schauen aus nur zwei Metern Entfernung ihren Nachbarn zum Fenster hinein -oder frontal auf eine nüchterne Wand. Es bleibt der Verdacht, dass die Fragmentierung der Blöcke vor allem dazu dient, für Bauträger die Bebauungsdichte und für Architekten den Gestaltungsspielraum zu erhöhen.

Bedürfnis nach Extravaganz

Das Bedürfnis von Wiens Baukünstlern nach Extravaganz ist durchaus stark. Auch in Aspern kommen viele Häuser nicht ohne aufgeständerte Gebäudeteile, unmotivierte Schrägen und massive Auskragungen der Obergeschoße aus. Dies führt zur Beschattung und Entwertung darunterliegender Stockwerke, erhöht vor allem aber die Baukosten in Zeiten schwindender Leistbarkeit des Wohnens. Dieselben Architekten, die für den humanen und effizienten Wohnbau der 20er-und 30er-Jahre schwärmen, missverstehen ihre Aufgabe im heutigen Sozialwohnungsbau vielfach als formales Experiment. Als ein solcher Irrtum wirkt etwa Asperns "Slim City" mit ihren dreizehn aufs Baufeld gewürfelten, bis zu acht Geschoßen hohen Häusern. Ihre dichte Staffelung scheint die Sonne absichtlich aus vielen der 178 Wohnungen und den mehrheitlich asphaltierten Höfen fernhalten zu wollen -und wird von den Architekten als Neuinterpretation der mittelalterlichen italienischen Stadt argumentiert. Dass die dreieckigen Balkone auf einer Seite - mitunter auch süd-oder westseitig - ohne Notwendigkeit durch Betonwände abgeschirmt werden, rechtfertigen die Baukünstler wiederum mit ihrem Gestaltungswillen, ebenso wie die Vollverkleidung der Laubengänge durch spröde Lochbleche. Während diese Form der Außenerschließung bei anderen Wohnbauten attraktive Aufenthalts-und Kommunikationsbereiche mit Pflanzen, Bänken und Spielgeräten schafft, entfalten die Laubengänge der Slim City den Charme von Fluchtwegen.

Nicht frei von gestalterischen Allüren sind auch die Freiräume im Wohnumfeld, deren Nutzbarkeit, so scheint's, nicht zu den wichtigsten Kriterien zählt. Kaum ein Innenhof findet mit einem ebenen Stück Rasen, ein paar Gartenbeeten und Bäumen das Auslangen. Als ob die scheinbar unvermeidlichen Garagenentlüftungen nicht schon Störfaktor genug wären, modellieren die Landschaftsplaner das Terrain auf engstem Raum durch Böschungen und Hügel, tragen hier Schotter und dort farbiges Granulat auf, platzieren Holzstege und Felsbrocken - und sollten doch irgendwo ein paar Quadratmeter zusammenhängenden Grüns übrigbleiben, wird eine Reihe Beleuchtungskörper mitten ins Gras gestellt.

Ein Block in der Seestadt verzichtet auf all diese bau- und gartenkünstlerischen Auffälligkeiten, nämlich jener, wo fünf Baugruppen ihre Vorstellungen eines lebenswerten Wohn-und Freiraums eigenverantwortlich realisierten. Die um einen gemeinsamen, nutzungsoffenen Grünraum herum gruppierten Häuser zeigen, was auf den anderen Baufeldern ebenfalls möglich gewesen wäre: geräumige Terrassen und Balkone, gemeinschaftliche Dachgärten sowie helle Treppenhäuser, die sogar als Spielzonen dienen; großzügige Gemeinschaftsräume bis ins Dachgeschoß für Kinder und Jugendliche, für kulturelle, handwerkliche und sportliche Aktivitäten oder zum miteinander Kochen und Essen; aber auch anmietbare Co-Working-Räume mit kompletter Büroinfrastruktur. Politik und Verwaltung, Bauträger und deren Planer könnten in Aspern von den Bürgern lernen, wie zeitgemäßer Wohnbau aussehen sollte.

Ein Schritt zur Emanzipation vom PKW

Für eine zeitgemäße Stadtentwicklung hat das Rathaus freilich noch eine andere Bringschuld: Dass es gelungen ist, die Seestadt zu Wiens fahrradfreundlichstem Quartier zu machen, in dem erstmals auch E-Bikes und Lastenräder zum Straßenbild gehören, sowie auch das Stellplatzangebot für die Bewohner um 30 Prozent zu reduzieren und nicht mehr wohnungsnah unter jedem Gebäude, sondern gebündelt in sieben Sammelgaragen anzuordnen, ist ein wichtiger Schritt zur Emanzipation vom Pkw. Doch soll ein großmaßstäbliches Straßenbauprojekt die Seestadt ab 2020 direkt mit Wiens Autobahnnetz verbinden - und Aspern damit erst recht wieder zum einem Drive-in-Stadtteil machen. Das Geld dafür wäre besser in zwei Tramwaylinien investiert, die der Seestadt von Anfang an versprochen wurden, an die mittlerweile aber immer weniger glauben. Und auch Asperns Busse, die nur alle 15 bis 20 Minuten verkehren, könnten eine Verdoppelung ihrer Frequenz gut vertragen. Denn was Wiens Stadterweiterungsgebiete bislang grundsätzlich von den urbanen Vierteln der gründerzeitlichen Stadt unterscheidet, ist ihre Autogerechtigkeit. Mit ihr zu brechen, wäre ein Bekenntnis zu einer tatsächlichen Wende in der Stadtentwicklung - und ein lohnendes Ziel für die Planung und Realisierung der beiden noch folgenden Ausbaustufen der Seestadt.

Der Autor ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung