Politischer und individueller Wahnsinn

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Ein vergessener Roman von Dorothea Zeemann wurde als Taschenbuch neu gedruckt und macht Lust auf Weiteres.

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Ein vergessener Roman von Dorothea Zeemann wurde als Taschenbuch neu gedruckt und macht Lust auf Weiteres.

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Mit dem Namen Dorothea Zeemann verbindet man in erster Linie die theatralisch-pikante Liaison mit Heimito von Doderer. Die Autorin hat das Ihre dazu getan, nicht zuletzt 1982 mit ihrer Skandalpublikation "Jungfrau und Reptil", in der die frühere PEN-Generalsekretärin die erotischen Vorlieben ihres berühmten Liebhabers schilderte und Empörung, aber auch belustigtes Schmunzeln hervorrief. Diese Art von Publizität war nicht gerade angetan, einer größeren Öffentlichkeit ihr eigentliches literarisches Îuvre nahezubringen. Es hätte aber tatsächlich mehr Beachtung verdient.

Nun, sechs Jahre nach dem Tod der Schriftstellerin und anläßlich ihres 90. Geburtstages, wurde einer ihrer früheren Romane neu aufgelegt: "Das Rapportbuch", erstmals erschienen vor 40 Jahren und seit langem vergriffen. Doch scheinen alle Wege Zeemanns zu Doderer zu führen, diesmal entstehungsgeschichtlich: der Text wurde während einer intensiven Phase ihrer Beziehung geschrieben, ist aber ein eindrucksvolles Beispiel von Dorothea Zeemanns künstlerischer Eigenständigkeit. Davon zeugt schon das Thema, Österreich im Vorfrühling 1938, ein von Doderer stets sorgsam ausgesparter historischer Augenblick.

Eine Wiener Nervenklinik liefert Genius loci, Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Ärzte, Patienten, Schwestern, Künstler, Nachbarn treffen samt ihren persönlichen Lebensgeschichten und -umständen, Familien, Problemen und Weltanschauungen aufeinander, ohne die Zeit zu erfassen, in der sie leben, "als schon Hitlers kalter Schatten über Österreich fiel" (Franz Theodor Csokor). Jeder, auch die Juden im Roman, ist so mit seinem Privatleben beschäftigt, daß er das Öffentliche nur am Rande registriert. Selbst die wenigen, die die Tragweite des Geschehens begreifen, ziehen keinerlei Konsequenzen, sondern verharren reglos in ihrer tragischen Pose, sehen an der Gefahr vorbei und laufen als jüdische Ärzte ins Verderben, oder als "arische" Schauspieler ins vermeintliche Glück einer Karriere im "Altreich".

Hier wäre vielleicht wieder ein Berührungspunkt mit Doderers Romanen auszumachen: Apperzeptionsverweigerung der äußerst lebendig und manchmal mit leiser Ironie gezeichneten Figuren. Politischer und individueller Wahnsinn greifen ineinander, der Text ist auch in gewisser Weise ein Versuch, ersteren durch letzteren verständlich zu machen. Die Autorin erliegt aber nicht der Versuchung, besserwisserische oder naiv allgemeingültige Erklärungsmuster anzubieten. Sie versucht nur, die Sinne des Lesers für die Abgründe der Seele zu schärfen - und für die vielfältigen Erscheinungsformen des Wahnsinns. Minutiös und expressionistisch angehaucht schildert sie etwa die Drogenphantasien einer alternden Krankenschwester, die, abgesehen von ihrer Sucht, eine imposante Erscheinung und die geheime Heldin des Romans ist. Ausgewiesene Protagonisten gibt es nicht. Schicksale sind miteinander verknüpft, ineinander verwoben, manchen Gestalten kommt man näher, andere werden kühl aus der Distanz betrachtet, zusammen bilden sie ein komplexes Beziehungsgeflecht und das Gerüst des Romans.

Die Autorin schöpft auch aus eigenen Erlebnissen. Geboren und aufgewachsen in Wien, hat sie als 18jährige eine Schwesternausbildung in der psychiatrischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses absolviert und und Hitlers Einmarsch miterlebt. "Das Rapportbuch" ist ein faszinierender Roman, der seine Neuauflage redlich verdient hat und Lust macht, andere vergessene Werke von Dorothea Zeemann kennenzulernen.

DAS RAPPORTBUCH Roman von Dorothea Zeemann Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1999 247 Seiten, Tb., öS 123.-/e 8,93

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