Prekäre Verhältnisse

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Sozialpolitik-Expertin Margit Appel verlangt von der Theologie einen klaren Blick auf gesellschaftliche Strukturen und deren Konsequenzen.

Margit Appel: Im Leitbild des neuen Instituts spricht mich besonders ein Themenschwerpunkt an, nämlich: das Augenmerk zu richten auf die "aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen und ihren Auswirkungen auf Theologie, Kirche und Bildung mit besonderem Blick auf Menschen in prekären Lebensverhältnissen".

Mich interessieren besonders solche prekären Lebensverhältnisse, die als Folge/als in Kauf genommenes Nebenprodukt bestimmter ökonomischer Prozesse entstehen: In meinem Verständnis entstehen prekäre Lebensverhältnisse als Folge gesellschaftlicher Strukturen, die Ergebnis menschlichen Handelns sind.

Regina Polak: Welchen Beitrag kann die Praktische Theologie zu dieser hochbrisanten Thematik leisten? Exemplarisch seien genannt: * Eine Begründung, warum man diese Menschen unterstützen soll: Weil vor Gott, der alle Menschen liebt, Teilhabe und Teilen selbstverständlich werden - und zwar mit dem Anspruch, prekäre Verhältnisse erst gar nicht entstehen zu lassen.

* Eine Option treffen: Gott hat diese Option eindeutig kundgetan. Nicht gegen die, die gut und glücklich leben, wohl aber für die, die nicht gut leben.

* Entstigmatisierend wirken: Indem sie zeigt, wie Menschen in prekären Situationen leben und handeln, wird deutlich, dass sie sich nicht auf ein Prekariarität reduzieren lassen, sondern Ressourcen und Fähigkeiten haben, menschlich sind und keine Almosenempfänger/innen.

* Nach den religiösen, spirituellen Wurzeln gesellschaftlicher Missverhältnisse und nach den spirituellen Wurzeln des Egoismus, der Ignoranz fragen: Gott ist im anderen, im Leidenden zu erkennen, so die Heilige Schrift. Diese Aufwertung befähigt, Mitleid, Erbarmen, besser noch: Liebe zu entwickeln - mit und für jene, die in prekären Situationen leben.

Martin Jäggle: Ergänzend: Im Horizont einer zeitgenössischen Praktischen Theologie darf die Frage nach prekären Verhältnissen keine der Barmherzigkeit sein, sie muss eine nach Gerechtigkeit sein.

Appel: Die aktuellen Debatten um das Bildungssystem und den georteten Reformbedarf machen deutlich, dass das Bildungssystem im Wesentlichen als gesellschaftliche Vorfeld-Chancenverteilungsorganisation zum Arbeitsmarkt fungiert/fungieren soll.

Heutige Beiträge der Praktischen Theologie zur gesellschaftlichen Praxis und den Zeichen der Zeit sollten den Disziplinierungs- und Herrschaftscharakter von Arbeit, wie er sich in der historisch gewachsenen und heute geltenden konkreten Organisation von Erwerbsarbeit zeigt, reflektieren und ergänzende/alternative Antworten auf die Frage der gesellschaftlichen Integration von Menschen zu geben versuchen.

Polak: Die Reduktion der Bildung auf Ausbildung für den Markt - ein katastrophaler Entmenschlichungsvorgang - hängt wohl auch damit zusammen, dass eine Gesellschaft, die ganz offensichtlich schlecht gebildete Sklaven zur Verrichtung elementarer Dienste braucht - gar kein Interesse daran haben wird, dass Bildung auch bedeutet: Wahrnehmen, Denken, Hinterfragen, Kritisieren, Lebensverhältnisse ändern. Zusätzlich muss die Praktische Theologie fragen, was Arbeit und Wirtschaft vor Gott bedeuten: Last und Notwendigkeit, Konkurrenz- und Überlebenskampf - oder auch Möglichkeit zur Selbstentfaltung, zur Mit-Schöpfung an Gottes Schöpfungswerk.

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