Provozierende und anstrengende Produktionen

Werbung
Werbung
Werbung

Frank Castorfs „Nach Moskau! Nach Moskau!“ und Christoph Schlingensiefs „Via Intolleranza II“ bei den diesjährigen Wiener Festwochen: Beide Regisseure bieten den Zusehern eindrucksvolle Arbeiten. Castorf bricht mit der Tradition der Tschechow-Interpretationen, Schlingensief zeichnet Bilder über Afrika, die sogleich wieder gelöscht werden.

Zwei Premieren bei den Wiener Festwochen bieten engagiertes, chaotisches, funkelndes Theater. Frank Castorf zeigt in „Nach Moskau! Nach Moskau!“ seine Auseinandersetzung mit Anton Tschechow, während Christoph Schlingensief mit „Via Intolleranza II“ für sein Operndorf in Burkino Faso wirbt.

Kombinierte Theaterstücke

Es ist nicht nur ein langer, sondern auch anstrengender Abend, den der Chef der Berliner Volksbühne, Frank Castorf, dem Wiener Festwochenpublikum in diesem Jahr zumutet. Aber „leicht konsumierbar“ war sein Theater eh noch nie. In „Nach Moskau! Nach Moskau!“ hat er Anton Tschechows berühmtes Stück „Die drei Schwestern“ mit dessen wenig bekannter Erzählung „Bauern“ kombiniert und zu einem wuchtigen, provozierenden und nicht minder spannenden Theaterabend gemacht.

„Schluss mit der Sentimentalität“, forderte der Berliner Regisseur und kritisiert damit die vielen, – seiner Meinung nach – falschen Tschechow-Interpretationen. Castorf bricht deutlich mit dieser Tradition, indem er die Dialoge der Schwestern über die utopischen, romantischen Zukunftsentwürfe und verklärende Vergangenheitsseligkeit nicht mit einer sentimentalen Gefühligkeit sprechen lässt. Statt der psychologischen Einfühlung, feiner emotionaler Ziselierung und Nuancierung spielt das grandiose Ensemble bei ihm viereinhalb Stunden lang laut, grell, plakativ. Ihn interessiert weniger die filigrane Psychologie in den Texten, als vielmehr die darin verborgene Psychopathologie.

Die utopische Sehnsucht der in der Provinz festsitzenden Schwestern nach dem fernen Moskau, kontrastiert Castorf mit dem traurigen Schicksal eines Bauern, der seinen Job in einem Moskauer Hotel hat aufgeben müssen und der jetzt zum Sterben in das verkommene Dorf in die Provinz zurückkehrt. Damit holt Castorf ein Stück der weniger bekannten Wirklichkeit der Tschechow’schen Welt auf die Bühne, das materielle Elend einer Landbevölkerung, das neben der physischen ebenso ihre mentale, emotionale und kulturelle Verwahrlosung bedingte.

Bert Neumanns Bühne setzt diese beiden Welten beziehungsreich nebeneinander. Rechts auf der erhöhten Holzveranda empfangen die Schwestern die Offiziere und ergehen sich in den Erinnerungen an und den Fantasien ihres Aufbruchs in ein besseres Leben. Links in einem schäbigen Bretterverschlag haust die depravierte Landbevölkerung und ergibt sich dem Wodka und der Gewalt.

Eine Anstrengung anderer Art bietet Christoph Schlingensief mit seiner nach einer Oper von Luigi Nono aus dem Jahr 1960 benannten Arbeit „Intolleranza II“. Denn die multikulturelle und multimediale Collage aus Spiel-, Gesangs- und Tanzszenen ist eine synästhetische Überforderung mit allen typischen Elementen der Schlingensief’schen Ästhetik: sich überlagernde Aktionen, Assoziationsreichtum und letztendlich einem Überangebot an Bedeutungsebenen, aus dem der Zuschauer seine eigenen Schlussfolgerungen ziehen muss.

Kritik am Eurozentrismus

In der mitunter chaotisch anmutenden Revue thematisiert das zu gleichen Teilen aus Europäern und Afrikanern bestehendes Ensemble das Verhältnis von Europa und Afrika. Auf immer wieder auf- und zugezogenen Vorhängen, die die mit bemalten Kisten, Glasvitrinen, Instrumenten, Tafeln, etc. vollgerammelten Bühne teilen, erscheinen immer wieder Bilder Afrikas, die gleich wieder „gelöscht“ werden, denn – so Schlingensief – würden 95Prozent der Bilder über Afrika von Weißen gemacht und damit kritisiert er das eurozentrische Bild, das wir von Afrika haben.

Selbstverständlich spricht der auch selber auftretende Schlingensief über seine Krebserkrankung und über seine Erfahrungen in Burkino Faso, über die Vergeblichkeit und das Scheitern. Dabei ist es sehr schwer zu sagen, was er wirklich ernst meint, denn er ironisiert und persifliert das eigene Gutmenschentum. Aber auf bezwingende Art versucht dieser große Künstler schließlich doch nur mit Kunst Einfluss zu haben, das heißt mit der Aufmerksamkeit, die wir ihm schenken, in die Lebenswirklichkeit einzugreifen. So blieb am Ende der Appell für sein Operndorf in Remdoogo zu spenden. Dem kann man sich kaum entziehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung