Psycho mit Mutter und KINDERN

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Der gelernte Filmösterreicher weiß ja längst, dass das Land nicht nur exzeptionelle Filme hervorbringt, sondern dass diese vorzugsweise die Abgründe der Seelen auf die Leinwände bringen. Man weiß von des Landes Großmeister Michael Haneke, dass man das p.t. Publikum zum Betrachten des -sinnlosen? - Ausrottens einer gutbürgerlichen Familie anleiten kann ("Funny Games", 1997/2007). Oder der kollektiven Verstörung von Kinderseelen zuschauen lässt ("Das weiße Band", 2009). Letzteres konnte man auch in Markus Schleinzers von den Zuschauern völlig unterschätzter Missbrauchs- und Entführungsparabel "Michael"(2011) erfahren.

Allen derartigen Spuren folgt "Ich seh Ich seh", der erste Spielfilm von Veronika Franz und Severin Fiala. Obwohl Ulrich Seidl den Film seiner langjährigen Partnerin und engsten Mitarbeiterin produziert hat, muss man diesen Großmeister hiesigen Grauens dazu nicht bemühen, zu sehr hebt sich "Ich seh Ich seh" vom Seidl'schen Filmstil ab. Aber der österreichischen Psycho-Spezialität, die wahren Gräueltaten im Kopf entstehen zu lassen, frönt dieses erstaunliche Leinwand-Debüt allemal.

Ein Designer-Haus, irgendwo im Waldviertel oder in anderer mittlerweile zur Einöde verkommenen Gegend. Eine Frau, die nach chirurgischer Intervention -welcher Art und warum, wird nicht verraten -ins fast leerstehende Haus zurückkehrt. Und ein eineiiges Zwillingsbrüderpaar, zehn Jahre alt, dessen unbeschwerte Kindheit vorbei scheint: die Mutter, vorgeblich rekonvaleszent, verbreitet Terror, und die beiden Buben agieren anders, als es ihre Unschuldsmiene vermuten lasse.

Zusätzlich findet sich sonst wenig Menschliches auf diesem in die unwirtliche Landschaft verpflanzten urbanen Gehöft. Dafür allerlei lebendes (Küchenschaben & Co) und totes (Katze etc.) Getier. Und wenn es dann doch den einen oder anderen hierher verschlägt -den Tiefkühllieferanten mit einer Wagenladung Pizza oder zwei schlichte lokale Rotkreuzler auf Spendensammeltour, dann dienen diese Randfiguren bloß zur Bekräftigung des Hermetismus, dem solch untraute Familie verfallen ist.

Keine Grenzen für -kranke -Fantasie

Wer ist, wer war die Frau dieses Hauses? Das ist ebenso die Frage von "Ich seh Ich seh" wie, wen die Kinder darstellen. Und warum der in dieser Konstellation fehlende Mann schmerzlich vermisst bleibt. Ein kunstvolles wie künstliches wie bodenloses Beziehungsgeflecht wird sichtbar: Außensicht und Innenleben geraten im Nu in ein durch und durch verstörendes Durcheinander, dessen Bedrohung ebenso unwirklich wie real scheint, und die eineinhalb Filmstunden in Bann zu ziehen vermag.

Der -kranken? - Fantasie wird da keine Grenze gesetzt. Wenig ist so, wie es scheint, und die Verletzungen, so subtil sie anfangs auch erscheinen mögen, sind so tief, dass sie kaum Erträgliches gebären und Nerven beim Zuschauen abnötigen, die es in sich haben. Was die Frau Mama oder wer immer diese Person ist, mit der Ungleichbehandlung der Zwillinge anrichtet, fällt auf sie zurück. Oder ist es bloß der böse Traum, in dem die Buben der Frau Küchenschaben in den Mund hexen oder nach dem Aufschneiden in den offenen Bauch applizieren?

Geradezu ein Feuerwerk an seelischen Vexierbildern und ebensolchen Interpretationsmöglichkeiten sind in "Ich seh Ich seh" versteckt; schon von daher ist das Setting dieses Psychothrillers meisterlich - und relativiert die gezeigten Grauslichkeiten, ohne ihnen irgendeine Schärfe oder Relevanz zu nehmen. "Ich seh Ich seh" - Worte eines bekannten Kinderreims, bringen das alles bereits grandios auf den Punkt; auch der Titel der englischsprachigen Version des Films, "Goodnight Mommy", kann als zynisches Resümee herhalten.

Neue Maßstäbe gesetzt

"Ich seh Ich seh" hat auch das Zeug, als österreichischer Film neue Maßstäbe zu setzen. Einen fulminanten Auftakt fürs Filmjahr 2015 stellt er zweifellos dar. Bei seiner Weltpremiere in Venedig fiel er bereits auf, mittlerweile kamen Preise der Filmfestivals in Sitges, Thessalonki und Ljubljana hinzu.

Der Filmemacherin und dem Filmemacher, die beide auch fürs Drehbuch verantwortlich zeichnen, standen heimische Größen der Branche zur Seite: Die exzeptionelle Kameraführung von Martin Gschlacht gehört ebenso dazu wie der Schnitt von Michael Palm. Die Musik steuerte Olga Neuwirth bei, ihr Repertoire an bedrohlichen bis beschaulichen Klängen trägt einen Gutteil zum Reiz und zur verqueren Eleganz des Streifens bei.

Nicht minder ist der Beitrag der Schauspieler anzusehen: Susanne Wuest gelingt es in kongenialer Weise, dem seelischen Verwurschteln der Protagonistin des Films Gestalt zu verleihen. In der darstellerischen Kraft wird sie aber von den beiden jungen Männern sogar noch übertroffen. Elf Jahre alt waren die Zwillinge Lukas und Elias Schwarz, Söhne eines steirischen Arztehepaares, als "Ich seh Ich seh" gedreht wurde. Auf welcher Klaviatur von unschuldiger Unterwürfigkeit bis zu abgrundtiefer Rachsucht, ohne jemals ihre kindliche Seele zu verleugnen, sie da spielen, erstaunt enorm. Hinterfotzig allenfalls das Drehbuch, das den beiden Jungdarstellern die realen Vornamen beließ. Einmal mehr zeigt sich hier, dass österreichische Regie-und Casting-Hände gerade jüngste Schauspieler zu Höchstleistungen anspornen können. In diesem Sinn erweist sich dieser Film als Fortsetzung von Hanekes "Weißem Band" oder Schleinzers "Michael", wo die Kinderdarsteller gleichfalls reüssierten.

Ein Moment ist dem Film -etwa im Gegensatz zu Hanekes "Funny Games" - besonders zugute zu halten: Er nimmt den Zuschauer nicht als Mitwisser von Gewalttaten und Morden in Geiselhaft, er lässt keinen Zweifel an der Ungewissheit von Fantasie und/oder Wirklichkeit aufkommen. Gewollt beängstigend bleibt das alles sowieso.

"Ich seh Ich seh" beginnt und endet mit einem Kinderlied. Der Film changiert zwischen "Weißt du, wieviel Sternlein stehen" und "Guten Abend, gut' Nacht". Die Melodien für die Kleinen sind natürlich -wie alles andere in Veronika Franz' und Severin Fialas Opus -absichtsvoll konnotiert. Auch ein Schlaflied garantiert Unschuld nicht. War in diesem Film auch nicht zu erwarten.

Ich seh Ich seh A 2014. Regie: Veronika Franz, Severin Fiala. Mit Susanne Wuest, Lukas und Elias Schwarz. Stadtkino. 99 Min.

Kritik zu "The Cut": siehe Seite 9 dieser FURCHE.

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