Queer - die Kunst als NORMVERSTOSS

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Diese Kunst lässt sich nicht auf das Spiel mit Geschlechterrollen reduzieren. Sie will Vielfalt abbilden und zeigen, dass man Dinge auch ganz anders betrachten kann.

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Diese Kunst lässt sich nicht auf das Spiel mit Geschlechterrollen reduzieren. Sie will Vielfalt abbilden und zeigen, dass man Dinge auch ganz anders betrachten kann.

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Mit dem überlegenen Sieg beim Song Contest hat Conchita Wurst ein europaweites Spektakel für sich entschieden. Ein ganzer Kontinent feiert die bärtige Kunstfigur, fast, so scheint es, den homophoben Anfeindungen aus osteuropäischen Staaten zum Trotz. Eine "Jeanne d'Arc der Queerness" sieht die taz gar in der Österreicherin: Die Medien exklamierten gleich eine neue Liberalität Europas, als könnte ein begrenztes Publikumsvoting bei einem traditionellerweise von den Gay-Communities begeistert mitgetragenen Wettbewerb die strukturelle Diskriminierung Homosexueller in Luft auflösen. Österreich im nationalen Freudentaumel, Conchita Wurst, eskortiert von jovial grinsenden Politikern, der Ballhausplatz getaucht in Regenbogenfarben - da kann man Schikanen wie das Bindestrichverbot bei eingetragenen Partnerschaften schon einmal übersehen.

Komplexer Begriff "queer"

Zu glauben, mit der Idolisierung Wursts sei Queerness im Mainstream angelangt, ist allerdings weit verfehlt; nicht nur deshalb, weil es sich, ohne die Bedeutung von Tom Neuwirths Engagement schmälern zu wollen, um ein sehr begrenztes Phänomen handelt, sondern vor allem, weil der Begriff "queer" wesentlich komplexer ist, als die Berichterstattung glauben machen will. Wild wird in einen Topf geworfen, was in Wahrheit völlig unterschiedliche Phänomene sind: Homosexualität und Drag, Trans- und Intersexualität. Ob sich jemand in bewusst überzeichnender Weise sozialer Praktiken bedient, die dem anderen Geschlecht zugeordnet werden, vor allem durch Kleidung, Styling aber auch Sprechweise und Gestik, also Drag, oder ob sich jemand im falschen Geschlecht gefangen fühlt, also als transsexuell definiert wird, ist ein eklatanter Unterschied, der in der undifferenzierten Berichterstattung völlig eingeebnet wird.

Der Begriff "queer" hat in den letzten hundert Jahren einen starken Bedeutungswandel erfahren. Ursprünglich nur etwas Ungewöhnliches bezeichnend, ohne dies deutlich negativ zu konnotieren, wird der Begriff in den 1930er-Jahren zum Schimpfwort für Homosexuelle. In den 1980ern reklamiert die Gay-Community die Bezeichnung für sich, um ihr die pejorative Note auszutreiben. Judith Butlers Theorie des resignifizierenden Sprechens geht davon aus, dass durch die bewusste Aneignung abwertend verwendeter Begriffe durch die damit bezeichnete Gruppe selbst eine Umkehrung initiiert wird und die Bezeichnungen so ihre Wirkungsmacht verlieren - so geschehen etwa mit dem Wort schwul, mit dem gleichgeschlechtlich liebende Männer mittlerweile mit großem Selbstverständnis auf sich selbst und ihr Begehren referieren.

Im öffentlichen Diskurs dominiert ein äußerst diffuses Bild von Dragqueens, Gay-Parades und schrillem Aktivismus. Queer wird mit Homosexualität assoziiert, wenn nicht gar gleichgesetzt. Dabei konkurrieren in den Queer-Studies eine Vielzahl von Konzepten und Definitionen: Die engste versteht unter queer die Dekonstruktion des binären Geschlechtssystems. Das heißt, dass über die Vorstellung einer Trennung von sex und gender, also von biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität, das Geschlecht selbst zur Disposition steht. Judith Butler wehrt sich gegen dieses Modell, weil damit im Endeffekt die Vorstellung von einer biologischen Zweigeschlechtlichkeit reproduziert wird. Die Philosophin argumentiert, dass nicht nur die Geschlechtsidentität und das am essentialistischen Zweigeschlechtersystem ausgerichtete Rollenverhalten gesellschaftlich konstruiert sind, sondern auch das biologische Geschlecht. Damit behauptet sie aber keineswegs, wie ihr oft unterstellt wird, dass es keine biologischen Unterschiede gibt. Doch diese werden gewichtet und kategorisiert - was nicht hinein passt, wie intersexuelle Menschen, wird pathologisiert.

Auch diese Erkenntnis ist nicht unbedingt neu. Der Sexualwissenschaftler Thomas Laqueur hat in seiner Studie "Making Sex" die Historizität des Zweigeschlechtermodells nachgewiesen, das sich erst im 18. Jahrhundert durchsetzt. Davor ging man davon aus, dass es nur ein Geschlecht gibt, das bei Männern und Frauen unterschiedlich ausgeprägt ist - der Penis wurde etwa als nach außen gestülpte Vagina interpretiert.

Q wie Questioning wie Unsicherheit

In der weitesten Definition wird Queerness zum Kampfbegriff des Außenseitertums schlechthin stilisiert und bezeichnet damit alle Gruppen und Identitätsentwürfe, die sich der herrschenden Norm widersetzen. Eine solche weit gefasste Kategorisierung scheint aber wenig zielführend, wenn sie den Begriff nicht sogar obsolet werden lässt. Deutlich wird indes der widerständige Charakter, der dem Konzept inhärent ist, und dieses Moment verbindet auch die LGBTIQ-Community: Lesbian, Gay, Bisexual, Trans- und Intersexual, das Q steht nicht für Queer, sondern für Questioning, also für Personen, die sich über ihre Geschlechtsidentität nicht im Klaren sind. Es sind Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen aus der Norm fallen: aufgrund ihres Begehrens, ihrer Geschlechtsidentität, der Gestalt ihres Körpers.

Stereotype dekonstruieren

Queer lässt sich nicht auf das Spiel mit Geschlechterrollen reduzieren. Inhaltlich will queere Kunst provozieren, indem sie stereotype Identitätspolitiken dekonstruiert, doch queere Ästhetiken müssen nicht zwangsläufig auch queere Inhalte transportieren. Queere Kunst ist auch nicht einfach schrill und provokant als Selbstzweck, sie irritiert vielmehr durch die Verweigerung konventioneller künstlerischer Verfahren. Mit jahrelang eingeübten Rezeptionsstrategien kommt man da nicht weiter, das kann das Publikum mitunter verstören.

Die Queertheorie betrachtet den Körper als performative Leinwand, das heißt, dass Geschlecht immer gespielt wird. Daher sind die darstellenden Künste prädestiniert für den Transport queerer Ästhetiken, was sich im Performancebereich, im Tanz, aber auch im Schauspiel in den letzten Jahren stark niederschlägt. Gerade das regelmäßig kritisierte Regietheater greift mit Vorliebe auf queere Praktiken zurück, wenn auch häufig eher als banale Provokation, und nicht als tatsächlich sinnvolle Neuinterpretationen kanonisierter Stücke. Etabliert hat sich auch das (New) Queer Cinema, das queere Thematiken mit innovativen filmischen Verfahren kombiniert, wie es die Filme Pedro Almodovars tun. Ein aktuelles Beispiel ist Xavier Dolans fantastischer Film "Laurence Anyways" rund um die Titelfigur, die eine Geschlechtsumwandlung zur Frau vollzieht, und ihre große Liebe, die punkige Fred. Die queere Ästhetik zeigt sich, wenn die realistische Bildsprache plötzlich durchbrochen wird von einer Flut an Farben, wenn die Kamera auf Details fokussiert, wo man sich als Zuseher Totalen erwartet, wenn aus dem Regen ganz unvermittelt ein pointillistisches Kunstwerk entsteht. Queere Kunst kultiviert den Normverstoß und setzt auf Widersprüchlichkeiten. So arbeitet Dolan mit Entfremdung und Identifikation zur selben Zeit, etwa durch extrem artifizielle Bilder, ein grell mit Kleidungsstücken übersäter Himmel, orchestriert von gegenläufig emotionalisierend eingesetzter Musik. Ang Lees "Brokeback Mountain" hingegen, über die tragische Liebe zweier schwuler Cowboys, bedient sich einer so klassischen Filmsprache, dass es trotz der Thematik nicht zum Queer Cinema zählt.

Die Literatur tut sich da naturgemäß etwas schwerer als die visuellen Künste, doch auch hier ist seit den 1990ern einiges in Bewegung. Thomas Meineckes 1998 erschienener Roman "Tomboy" liest sich mit seiner augenzwinkernden aber durchwegs affirmativen Annäherung an die Gender- und Queertheorie noch immer äußerst unterhaltsam. Der Roman zeichnet sich aus durch ein Ensemble unorthodoxer Figuren rund um die "zwangsheterosexuelle" Vivian und Hans Mühlenkamm, heterosexueller Arzthelfer mit Faible für Handtaschen: Das Andere wird zur Norm erhoben. Formal unterläuft Meinecke tradierte literarische Muster, es gibt keine Klimax, keinen kongruenten Handlungsablauf. "Tomboy" treibt ein postmodernes Spiel mit Versatzstücken, parodiert Genres, vermeidet jede Schublade.

Barrieren abbauen

Queere Kunst wendet sich häufig an ein dafür bereits sensibilisiertes Publikum, was ihre subversive Sprengkraft schmälert. Conchita Wurst hingegen wirkt auch als Identifikationsfigur für Menschen, die sich üblicherweise nicht mit Queerness auseinandersetzen. Allein das Bild der bärtigen Schönheit, das aufgrund der Omnipräsenz in allen Medien plötzlich völlig normal wirkt, kann vielleicht Barrieren abbauen und positiv wirken: Was man gut kennt, macht weniger Angst. Doch man braucht sich nichts vorzumachen: Auch wenn halb Österreich im Wurst-Takt zu schunkeln scheint, diskriminierende Töne sind noch immer salonfähig. Deshalb ist queere Kunst wichtig: Um Diversität, Vielfalt abzubilden und zu zeigen, dass man Dinge auch ganz anders betrachten und gestalten kann.

Die Autorin ist wiss. Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Uni Innsbruck

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