Raus aus der seelischen Sackgasse!

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Fast jeder kennt das bittere Gefühl, das bei tiefer Enttäuschung und Kränkung entsteht. Im Extremfall kann es das ganze Leben erfassen oder gar zur Krankheit werden. Doch die fatalen Konsequenzen der Verbitterung wurden bislang nur wenig beachtet.

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Fast jeder kennt das bittere Gefühl, das bei tiefer Enttäuschung und Kränkung entsteht. Im Extremfall kann es das ganze Leben erfassen oder gar zur Krankheit werden. Doch die fatalen Konsequenzen der Verbitterung wurden bislang nur wenig beachtet.

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Im vierten vorchristlichen Jahrhundert beschrieb Aristoteles eine "Art von Menschen", der "sich selbst und den vertrautesten Freunden die schwerste Last" ist: "Verbittert ist der schwer zu Versöhnende, der lange den Zorn festhält; er verschließt die Erregung in seinem Innern und hört damit erst auf, wenn er Vergeltung geübt hat ( ). Geschieht das nicht, so wirkt der Druck weiter. Denn da die Erregung nicht offen heraustritt, so kann einem solchen auch keiner gut zureden; innerlich aber die Erregung zu verarbeiten, dazu braucht es der Zeit."

Wie dieses Zitat aus der "Nikomachischen Ethik" zeigt, reflektierte schon der griechische Philosoph über ein Leiden, das einem das Leben regelrecht zur Hölle machen kann. Es betrifft Menschen, die die Erfahrung einer schwerwiegenden Kränkung, Zurückweisung oder Ungerechtigkeit machen. Sie sehen zentrale Werte in ihrem Leben missachtet, Erwartungen enttäuscht und sich als Person herabgewürdigt. Und sie reagieren darauf besonders ungünstig - eben indem sie "ihren Zorn festhalten" und sich langfristig auf den seelischen Schmerz fixieren, der ihnen widerfahren ist. Sie sind in der Spirale der Verbitterung gefangen.

Von "Medea" zu "Michael Kohlhaas"

Dass es sich dabei um ein "heißes Gefühl", also um eine gefährliche emotionale Verfassung handelt, ist ebenso dem Alten Testament zu entnehmen: Dort steht die Verbitterung bereits am Beginn der Menschheitsgeschichte, wie die Erzählung von Kain und Abel zeigt. In ihr nimmt Gott das Opfer von Abel mit Wohlgefallen an, während er das von Kain verschmäht. Dieser erträgt die ungleiche Behandlung nicht, da er sie als zutiefst ungerecht und herabwürdigend empfindet. In der biblischen Geschichte schlägt die Kränkung in Verbitterung um; daraus entsteht Verzweiflung und schließlich Gewalt: Kain ermordet seinen Bruder.

Verbitterung ist eine urmenschliche Emotion, erklären Michael Linden und Sigrid Engelbrecht anhand dieses Beispiels. "Sie kann einen Menschen in seinem Innersten erschüttern und ihm jeglichen Halt entziehen. Dies kann so weit gehen, dass die Betroffenen sich selbst und andere zerstören." Der Arzt und Psychotherapeut sowie die Mental-Trainerin informieren in ihrem Buch "Lass los!"(Ecowin, 2018) umfassend über dieses explosive innere Gemisch, das bislang nur wenig wissenschaftliche Beachtung gefunden hat. Zugleich geben die deutschen Autoren Hilfestellungen für Betroffene und Angehörige, wie man sich aus diesem schlimmen Zustand befreien kann.

Tatsächlich zeigt auch ein Blick in die Literaturgeschichte, wie verheerend diese Gefühlslage immer schon für das menschliche Zusammenleben war. In der antiken Tragödie "Medea" etwa schildert der griechische Dichter Euripides, wie sich die Königstochter Medea an ihrem Ehemann Jason dafür rächt, dass er sie verlassen hat. Sie schreitet zur Wahnsinnstat, indem sie die gemeinsamen Kinder tötet. Die Geschichte zeigt, wie Verbitterung zu blinder Rache führen kann -und wie diese auf die Rächende selbst zurückfällt. Denn durch ihre Tat entfacht Medea in sich selbst ein schier unerträgliches Maß an Schmerz, Leid und Trauer. Noch blutiger ist das "Nibelungenlied" aus der frühen deutschen Kulturgeschichte: Die burgundische Königstochter Kriemhild kann den Mord an ihrem Mann Siegfried durch Hagen von Tronje nicht überwinden. Nach außen hin gibt sie sich den Anschein, als hätte sie sich mit dem Geschehen abgefunden. Doch in Wahrheit ist sie verbittert und wartet nur auf die Gelegenheit zur groß angelegten Rache. Diese vernichtet schließlich das Geschlecht der Burgunder und die mit ihnen Verbündeten.

Exemplarisch für die innere Struktur der Verbitterung unter bürgerlichen Vorzeichen ist Heinrich von Kleists Novelle "Michael Kohlhaas": Sie schildert das Schicksal eines ehrenwerten Pferdehändlers, der gegen ein Unrecht auf gerichtlichem Weg nichts ausrichten kann und sodann zur Selbstjustiz greift. Seine Forderung nach Gerechtigkeit schlägt um in Verbitterung, die ihn fortan das "Geschäft der Rache" betreiben lässt. Ohne Rücksicht auf Verluste straft er seine Widersacher ab, letztlich verliert er dabei sein Leben. "Heute würde man sagen, dass Kohlhaas die Grenze von einer normalen Verbitterung hin zur pathologischen Form deutlich überschritten hat", so Michael Linden und Sigrid Engelbrecht. Früher wurden Symptome dieser Art unter dem Begriff des Querulantentums diskutiert; heute werden die schwersten Ausformungen dieses Phänomens als "posttraumatische Verbitterungsstörung"(PTED) diagnostiziert. Die Betroffenen leiden längerfristig unter sich aufdrängenden Erinnerungen an ein kritisches Lebensereignis. Unversöhnlichkeit, Hilflosigkeit und die Fixierung auf die Opferrolle sind charakteristisch, ebenso wie wiederkehrende Gedanken an Rache, Aggressionsfantasien oder erweiterten Suizid.

Therapeutische Strategien

Dass Verbitterung generell nicht zu Mediation und konstruktiver Problemlösung, sondern oft zu irrationalen Handlungen unter Inkaufnahme der (finanziellen) Selbstzerstörung führt, können heute viele Richter und Rechtsanwälte bezeugen. In Gerichtsprozessen kann das Ausleben von Verbitterungsemotionen eine große Rolle spielen, etwa in Familien-,Scheidungsoder Nachbarschaftsstreitigkeiten. Die Folge sind "erbitterte" Rechtstreitigkeiten mit unnötig hohen Verfahrenskosten, die bislang nur wenig professionelle Aufmerksamkeit oder juristische Bearbeitung gefunden haben, wie die Autoren bemerken. Vielleicht liegt das schlicht daran, dass präventive Maßnahmen hier den finanziellen Interessen der beteiligten Berufsstände zuwider laufen würden.

Im Fall einer Verbitterung kann die erlittene Kränkung nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Was also kann man dagegen tun? Es geht darum, aus der Schleife vergeblicher innerer Kämpfe auszubrechen. Das bedeutet, dass die Kränkungs-und Verbitterungsgefühle an sich aufgearbeitet werden müssen. Linden und Engelbrecht präsentieren einige Methoden, die sich in der Therapie bewährt haben: (1.) expressives Schreiben, bei dem das innere Erleben unzensiert und spontan festgehalten wird, sowie das narrative Schreiben, bei dem das Geschehen rein sachlich zu Papier gebracht wird, um sich emotional besser distanzieren zu können. (2.) Akzeptanz und Achtsamkeit, um den Umgang mit schwierigen Gedanken und Gefühlen zu erleichtern,(3.) Vergebung im Sinne eines bewussten Entschlusses, Wut-und Rachefantasien nicht mehr weiter zu verfolgen und die ganze Sache für sich selbst abzuschließen, sowie (4.) die Förderung von Weisheit durch Lebenskompetenzen wie Empathie, Perspektivwechsel, Selbstrelativierung, Humor etc. Hier fließt das Wissen aus dem relativ jungen Gebiet der Weisheitstherapie ein, für das der Arzt Michael Linden Pionierarbeit geleistet hat.

Mit Weisheit durchs Leben

Studien deuten darauf hin, dass Weisheitskompetenz sogar einen noch größeren Einfluss auf die Lebenszufriedenheit hat als der Gesundheitszustand, der gesellschaftliche Status oder die finanzielle Situation. Anders gesagt: Mit Weisheit kann man auch den widrigsten Lebensumständen trotzen. Ein weiser Mensch bemüht sich stets um den richtigen Durchblick, wie der US-Theologe Reinhold Niebuhr pointiert festgestellt hat: "Gott gebe mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann; den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann; und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."

Die Autoren beleuchten auch die gesellschaftliche Dimension der Verbitterung. Kränkung, Ungerechtigkeit sowie der Angriff auf die eigenen Grundüberzeugungen können sie auch kollektiv befeuern. Als Beispiel dient etwa die ostdeutsche Gesellschaft, die nach der Wende plötzlich einer tiefgreifenden Verunsicherung ausgesetzt war. Vielleicht ist Verbitterung überhaupt ein Schlüssel zum Verständnis aktueller Phänomene, vom islamistischen Terrorismus bis zu den jüngsten Ausschreitungen von Chemnitz: "Das Phänomen der Verbitterung, das immer auch von starken sozialen Appellen begleitet wird ('Seht her, uns geht's schlecht - und ihr seid schuld!'), und seine zerstörerischen Folgen in Form von Rückzug, Rache und Vergeltung müssen auch politisch ernst genommen werden."

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