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Norbert Scheuers Roman über Abgründe und Träume von Menschen in der Provinz.

Lange Zeit schien es, als sei das Genre des Heimatromans nach all den Transformationen, die es im 20. Jahrhundert erfahren hat, zwischen diversen Schwarz-Weiß- und später Weiß-Schwarz-Malereien, endgültig untergegangen. Es ist wohl auch untergegangen. Aber an seine Stelle ist ein neues, ein mit Ersterem verwandtes Genre getreten, in dem die Grenzen zwischen realen und fiktiven Landschaften verschwimmen, pure Verklärung oder pure Polemik keinen Platz mehr finden und schließlich Erzähler zu Wort kommen, die mit allen Wassern gewaschen sind.

So wie der Ich-Erzähler in Norbert Scheuers jüngstem Roman. Er ist 45 Jahre alt, man schreibt das Jahr 1996; nach langer Abwesenheit kehrt der verlorene Sohn in das Haus seiner Eltern zurück, in eine nie sonderlich gut geführte Gaststätte in der Eifel. Erinnerungen an die alles andere als unbeschwerte Kindheit, an das Haus, in dem merkwürdige Begebenheiten und Geräusche in erster Linie Angst hervorgerufen haben, drängen sich von Anfang an auf. Auch der Hauptgrund des Besuchs ist unerfreulich: Hermann, der ältere Bruder des Ich-Erzählers, hat sich seit Tagen eingeschlossen, er scheint krank, vielleicht sogar verrückt geworden zu sein. Der Ich-Erzähler sieht sich also veranlasst, gemeinsam mit seinen beiden Schwestern, dem Bruder beizustehen.

Seltsame Geschichten

Aber weil nicht eben viel zu tun ist, hält sich der Ich-Erzähler häufig an oder in jenem Fluss auf, der an der Gaststätte vorbeifließt – auf ein Wehr zu, das schon immer die Kinder fasziniert und angezogen hat und das „der Rauschen“ genannt wird. Er angelt, obschon er nie ein passionierter Fischer gewesen ist, anders als Hermann oder auch der Stiefvater der beiden Brüder, der zeitlebens davon geträumt und geredet hat, irgendwann einmal den großen alten Fisch namens Ichthys zu fangen, auf dessen Schuppen angeblich alle Fische dieser Welt sich spiegeln. Der Rauschen, das Rauschen des Wehrs beruhigt den Ich-Erzähler noch immer, wie sonst nur eins: nämlich das Erzählen selbst.

Es sind seltsame, denkwürdige Geschichten, die er erzählt, die er sich zusammenreimt aus überlieferten oder auch erinnerten Bruchstücken. Die Hauptrollen in diesen Geschichten spielen die Schauplätze, zum einen das Wirtshaus, das mehr und mehr verkommt, zum andern der Fluss, der sich nicht verändert und nach wie vor an der Gaststätte vorbeiströmt und am Rauschen hinunterstürzt „in einen großen See verlorener Zeit“, sowie die dort auftretenden Figuren, darunter die Mutter, die nach dem Tod ihres ersten Geliebten lange Zeit immer wieder andere Männer mit auf ihr Zimmer nimmt, der Stiefvater, ein selbsternannter Anarchist, der jedoch aus seinem Verlies kaum herauskommt, nur um zu arbeiten oder zu angeln, weiters Hermann, der immer schon das Alleinsein geübt hat, auch im Umgang mit Frauen, schließlich die Frauen im Haus, Alma und Reese, und die nicht selten sturzbetrunkenen Gäste: Menschen, die alles andere als Spießer werden wollten und doch allesamt schließlich Spießer geworden sind – wie am Ende wohl auch, so sieht er sich jedenfalls, der Ich-Erzähler selbst.

Unaufgeregte Erzählweise

Das alles wäre noch kein Grund, diesen Roman zur Lektüre zu empfehlen; zumal da er seit seinem Erscheinen von Lektüreempfehlungen geradezu verfolgt wird und sowohl auf der SWR-Bestenliste wie auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2009 zu finden ist.

Was diesen Roman auszeichnet, ist jedoch keineswegs nur die Story. Es ist vielmehr die geradezu unheimlich ruhige, unaufgeregte Art und Weise des Erzählers, Einblicke zu geben einerseits in die Abgründe der Provinz und andererseits zugleich in die Träume der Menschen dort vom großen und vom kleinen Glück.

Es ist ein Erzählfluss, der immer wieder verlangsamt wird, wenn es gilt, die Figuren auf ihren selbstgewählten Wegen in die Einsamkeit zu begleiten und gleichzeitig doch auch dann nicht zu denunzieren, wenn sie von der Sehnsucht gepackt werden, aus ihrer Einsamkeit auszubrechen; ein Erzählfluss, der das konkrete Alltagsleben der kleinen Welt in der Eifel wie unter der Hand mit der großen Welt des Mythos verknüpft (und sich nicht nur spielerisch anschließt an Ovids „Metamorphosen“); ein Erzählfluss, der immer wieder sogar zum Stocken gebracht wird, nicht zuletzt durch Zeichnungen und Erläuterungen für angehende Fliegenfischer, tatsächlich stockt und stockt und doch auf ein furioses Finale zusteuert, dass es am Ende nur so rauscht.

Überm Rauschen

Roman von Norbert Scheuer C. H. Beck 2009 167 S., geb., e 17,90

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