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Eigentlich sollte ich an dieser Stelle ein Plädoyer für die Nüchternheit halten, für ein Leben mit klarem Blick, aufrechtem Gang und erträglicher Ausdünstung. Aber Abstinenz-Apostel haben ein Problem: Sie sind Spielverderber. "Es ist ein kraftloser Moralismus, dem jeder unkontrollierte Trieb, jede spontane Lebensäußerung, jeder kleine Exzess suspekt ist", ereiferte sich der notorisch renitente Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier unlängst über den Vorschlag der Grünen, Rauchen bis 18 Jahre zu verbieten - und seine Brandrede könnte genauso gut all jenen gelten, die vor übermäßigem Genuss von Gebrautem, Vergorenem oder Gebranntem warnen.

Eine solch leblose Figur möchte ich nicht sein - und bin ich auch nicht: Ein abendliches Bier zum Runterkommen schätze ich ebenso wie ein halbes Achterl Wein zur Beruhigung vor einem Auftritt. Danach darf es auch noch mehr sein - im Optimalfall eine Verkostung von elf Schilchersorten in einer weststeirischen Buschenschank.

Die weniger idyllischen Seiten des Rausches habe ich als Kind kennengelernt: Thekensteher, die beim Gang zur Toilette verdächtige Spuren zogen; Stammgäste, die sich beim Heimfahren mit dem Auto überschlugen; Männer, denen die Leberzirrhose das Fleisch vom Körper nagte und die Bäuche blähte. Trinkende Frauen waren bei uns im Gasthaus selten, sie blieben mit ihren Flaschen und ihrem Jammer lieber daheim.

340.000 Menschen sind in Österreich alkoholkrank. Laut OECD konsumiert die österreichische Bevölkerung 12,2 Liter reinen Alkohol pro Kopf und Jahr, nur in Litauen und Estland ist der Durst noch größer. Warnhinweise auf Weinoder Bierflaschen, wie sie Ende April vom EU-Parlament gefordert wurden, haben genauso wenig Effekt wie jene auf Zigarettenpackungen. Wovor sollten sie auch warnen? "Alkohol kann Sie umbringen"? Lächerlich, schließlich gilt für das Trinken noch viel mehr als für alle anderen Suchtmittel: Die Dosis macht das Gift - und der Grat zwischen Genuss und Sucht ist nicht nur schmal, sondern verläuft auch bei jedem anders.

Wer wird abhängig - und wer nicht?

Bis heute ist unklar, warum die einen trinken können, ohne abhängig zu werden, und andere nicht. Dass es so etwas wie eine Abhängigkeitspersönlichkeit nicht gibt, gilt jedenfalls seit der Grant-Studie als sicher. Die Untersuchung, für die 268 US-amerikanische Studierende ab 1938 jahrelang begleitet wurden, konnte nur zwei Unterschiede zwischen künftigen Alkoholikern und normal Trinkenden nachweisen: "Der eine bestand darin, dass viele der zukünftigen Alkoholiker sehr viel mehr Alkohol vertragen konnten. Der zweite nachweisbare Unterschied war, dass die zukünftigen Abhängigen öfter in einem sozialen Umfeld aufgewachsen waren, in dem Betrunkenheit unter Erwachsenen toleriert wurde", betont der Berliner Kulturjournalist Daniel Schreiber in seinem persönlich gehaltenen Essay "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück".

Im Fall von Schreiber bestand dieses Umfeld aus Freunden, die noch mehr tranken als er selbst, und dem Kunst-und Literaturbetrieb, in dem schweres Trinken "mitunter sogar zum guten Ton gehört", wie er schreibt. Vier Jahre lang trank er pro Abend mehr oder weniger eine Flasche Wein, nicht zu vergessen die Abstürze an den Wochenenden. Dass Trinken und Unglück zusammenhängen, ist für den heute Abstinenten klar. Das "Hintergrundrauschen eines verfehlten Lebens" habe er nur mit einem Glas Wein in der Hand ertragen. Ebenso offensichtlich ist für Schreiber der "gemeinschaftliche Selbstbetrug", mit dessen Hilfe man verdränge, dass Alkoholismus längst eine Volkskrankheit geworden sei. "Wein-, Winzer- und Terroirkennertum, kumpelhafte Wochenendabstürze oder kollegiales Feierabendtrinken - alles, nur kein Alkoholismus", ätzt Schreiber.

Aus solchen Sätzen spricht der Eifer des Bekehrten, der nicht mehr "normal" trinken darf, sondern seine Zufriedenheit in Yoga, Laufen und Meetings der Anonymen Alkoholiker findet. Trotzdem ist Schreibers furioser Spielverderbertext ein guter Anlass zur kritischen Selbsteinschätzung. Mit der Diagnose, dass zumindest das Trinken von der viel zitierten neuen Genussfeindlichkeit nicht betroffen ist, hat er jedenfalls Recht: Sollten Sie daran zweifeln, müssen Sie keine weststeirische Buschenschank frequentieren. Es reicht schon der Versuch, beim nächsten Bürooder Geburtstagsfest einfach nichts zu trinken.

NÜCHTERN

Über das Trinken und das Glück

Von Daniel Schreiber Hanser 2014. 160 Seiten, geb., € 17,40

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