Reales Morden, virtuell erklärt

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Slavoj Zizek beherrscht virtuos Cypertech- wie Psychojargon.

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Slavoj Zizek beherrscht virtuos Cypertech- wie Psychojargon.

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Inseln der absoluten Unmenschlichkeit scheinen in dieser Zeit der konsensuellen Lösung lokaler ebenso wie internationaler Probleme da und dort wie Geschwüre aufzubrechen. "Liebe Deinen Nächsten? Nein Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne" heißt das jüngsteBuch des Slowenen Slavoj Zizek. Er geht darin psychoanalytisch an die Postmoderne heran. Im Vorwort weist er darauf hin, daß sich das Problem zwar zur Zeit besonders am Balkan stelle, doch in Wirklichkeit von unserem neuen Cyberspace, dem digitalen gesellschaftlichen Raum stamme, auch Postmoderne genannt, "new age" und gelegentlich auch Zweite Moderne. Es wimmelt von Bezeichnungen, scheint mir, die niemand so recht definieren kann. Deshalb sieht man die Verwalter des Zeitgeistes in die verschiedensten Ausdrücke flüchten, sobald der Erklärungsdruck zu stark wird.

Zizek aber findet sich immer und überall zurecht. Er hat beim berühmten Psychoanalytiker Lacan in Paris studiert und ist Gastprofessor amerikanischer Universitäten, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Ljubljana, solide verankert aber vor allem in der internationalen Symposiumsszene. Mit 250 Symposiumsvorträgen bis Drucklegung des Buches weist er sich als Welterklärungsprofi aus. So liest sich auch das Buch mit mindestens drei Erklärungen pro Seite für immer neue Probleme oder Aspekte von Problemen der Menschheit. Da muß man beim Lesen schon oft die Luft anhalten.

Er beginnt verständlicherweise beim ehemaligen Jugoslawien die Frage nach den Gründen der Unmenschlichkeit zu stellen, der totalen Verweigerung von Nächstenliebe. Um sie zu beantworten, solle man sich allerdings vorher fragen, worum es wirklich geht. Ist es nicht eher so, daß der sich so gut vorkommende Westeuropäer den Haß gegen den Nächsten in seiner Gesellschaft mit Lust auf jenen Topos - den Balkan - projiziert, "der die ganze Wut der unterschiedlichen Formen des Rassismus wiederbelebt"? Was aber, wenn diese Vorstellung vom Balkan "keineswegs ein tadelnswerter Rest einer vergangenen Ära ist, sondern durch den Kontakt mit dem Westen ... erzeugt worden wäre?"

Um zu diesem Schluß zu kommen, beginnt der Autor allerdings bei Kant und Sade, interpretiert von Lacan. Der meinte, daß "Sade ein heimlicher Kantianer" sei. Die "versteckte sadesche Dimension" sei "dem Kantschen Theoriegebäude inhärent". Von dieser Prämisse her entwickelt Zizek eine erkleckliche Zahl von Paradigmen. Etwa: Jegliche Berufung auf Pflicht, höhere Werte oder Ideologie als Begründung für sadistisches Verhalten sei zurückzuweisen. Die "Kantsche Ethik ist also nicht ,sadistisch', sondern im Gegenteil genau das, was es uns verbietet, die Position des sadistischen Henkers einzunehmen".

Im Holocaust begegne uns der Fall einer zivilisierten, westlichen Nation, die der Lust - Zizek benützt stets den Lacanschen Ausdruck ,jouissance', aber es heißt dasselbe - der Lust also am Bösen unterlegen ist. Goldhagen, findet er, habe weitgehend recht: "Es ist klar, daß der subtile Zwang eine zusätzliche Lust gewährte, weil man Teil eines transindividuellen Körpers war und in der Masse mitschwamm."

In der stalinistischen Rechtfertigung des revolutionären Terrors schwinge zwar die gleiche Logik mit wie in Himmlers Erklärung, der Dienst an der edlen Sache rechtfertige es, sich die Hände schmutzig zu machen. Die Annahme eines universellen totalitäten Mechanismus sei jedoch falsch. "Die paranoiden Nazis glaubten tatsächlich an eine jüdische Verschwörung, während die perversen Stalinisten aktiv ,konterrevolutionäre Verschwörungen' organisierten oder erfanden." In der Zwischenzeit habe sich die patriarchalische, die symbolische Autorität im Namen des Vaters aufgelöst, das heißt, "die Reduzierung des Herrn auf ein imaginäres Ideal hat zwangsläufig seine monströse Kehrseite zur Folge, eine Über-ich-Figur der allmächtigen Inkarnation des Bösen, die unser aller Leben kontrolliert. In dieser Figur überschneiden sich das Imaginäre (Ähnlichkeit) und das Reale (der Paranoia) aufgrund der Suspendierung der symbolischen Wirklichkeit".

Zizek erklärt Bill Gates, eine Ikone unserer Zeit. Mit Bill Gates wären wir bei Ödipus online. "Ist nicht das digitale Universum des Cyberspace das ideale Medium, in dem sich reine Erscheinungen konstruieren lassen?" Wir dürften jedoch nicht dem Irrtum verfallen, hier angewandte Ideologie zu sehen und "multiperspektivisches Umkreisen eines unmöglichen Realen als das unmittelbare Resultat der Cyberspace-Technologie zu begreifen." Die Ideologie sei bereits den technologischen Kennzeichen des Cyberspace eingeschrieben. Wir hätten es vielmehr mit dem Phänomen zu tun, daß alte künstlerische Formen an ihre Grenzen stoßen. Die Neue Form, die sich entwickle, sieht Zizek im Hypertext des Cyborgs - ich würde das eher Meta-Gestaltung durch Internetbürger nennen, womit ich allerdings nur eine Zeile Hypertext schreibe. Viele Versionen einer Geschichte seien jedenfalls gleichzeitig virtuell wahr und damit sei eine Geschichte keine Geschichte mit Anfang und Ende mehr, sondern eine Reihe virtueller Zustände, abwechselnd überdeckt, durchdrungen und unterlegt von virtuellen Wahrheiten. In Filmen wie Kurosawas "Rashomon" sieht Zizek Vorläufer der Cyborg-Hypertexte in der Filmkunst.

Slavoj Zizek deckt offenbar mit seiner psychoanalytischen Infragestellung des Westens durch die "Zweite Welt" einen Bedarf der westlichen Intellektuellen und wird daher auch von Autoren wie Habermas gerne als Stimme des "Anderen" zitiert.

LIEBE DEINEN NÄCHSTEN? NEIN DANKE! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne Von Slavoj Zizek Verlag Volk und Welt, Berlin 1999 283 Seiten, Ln., öS 307,-/ e 22,31

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