Realität und magischer Realismus

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Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" am Salzburger Landestheater zeigen Parallelen zu heute und Schimmelpfennigs "Die Straße der Ameisen" lädt im Schauspielhaus Salzburg zu Traumvisionen ein.

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Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" am Salzburger Landestheater zeigen Parallelen zu heute und Schimmelpfennigs "Die Straße der Ameisen" lädt im Schauspielhaus Salzburg zu Traumvisionen ein.

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Man kann Ähnlichkeiten, Parallelen zu heute nicht übersehen. Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald", geschrieben zur Zeit der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre, zeigen idente Symptome: Arbeitslosigkeit und Prekariat haben sich breit gemacht, Wohnungen für Underdogs sind nicht erschwinglich, Brutalität und Aggressionen steigern sich, Beziehungen gehen kaputt. Mit der Schattenseite des Wiener Herzens, der Negativität, geht Horváth ins Gericht, mit einer Geschichte aus dem achten Bezirk.

Die patriarchalische Obsession von Vater und von Bräutigam, der Blick auf strenges, militärisch autoritäres Regiment im zivilen Bereich, der verzweifelte und nicht gelungene Ausweg in die Prostitution und das gnadenlose Töten von Kindern. All das hat Carl Philip von Maldeghem ins Bild gesetzt. Aber zunächst Walzerklänge, die bevorstehende Verlobung von Marianne mit Oskar von der Fleischhauerei, arrangiert vom Spielwaren-Zauberkönig -ein positives Gesellschaftsbildchen. Oder? Da fährt der "Blitz" dazwischen, Marianne wendet sich dem Filou Alfred zu und die Tragödie nimmt ihren Lauf, bis zum Kindesmord durch die Großmutter.

Horváth hat die Psyche des Menschen gekannt: Eine Marianne, Nikola Rudle, die alle, aber wirklich alle tiefsten Tiefen in ihrem jungen Leben auszuhalten hat, bis sie zermürbt in den, ja, Fängen ihres Metzgers landet, egoman: Christoph Wieschke. Der Spieler Alfred, Sascha Oskar Weis, der das gemeinsame Kind zur Großmutter in die Wachau abschiebt, die es tötet. Diese Frau, in der Salzburger Regie eine negative Übermutter, mit ausgebreiteten Armen wie eine Marienerscheinung, interpretiert Janina Raspe. Nah bei Horváth der Zauberkönig von Walter Sachers, ebenso Britta Bayer als Trafikantin Valerie, Gregor Schulz als der stramme Student Erich und schließlich, ausdrücklich, Tim Oberließen als Metzgerbursch Havlitschek.

Sie alle spielen vor einer Wand aus Kacheln, deren abstraktes Weiß das Grün der Donauufer und das Ambiente der Heurigenszene ersetzt, die eher als Rüpelszene denn als subtil inszenierte Entblößung von Charakteren zu verstehen ist. Der Premierenapplaus galt dem Ensemble und Regisseur von Maldeghem, der nach Angriffen aus Köln Salzburg als sein Wirkungsfeld behält.

Eine ganz andere Geschichte, eine aus dem "magischen Realismus", wobei man nicht unterscheiden muss, was denn wahr, wirklich und was eingebildet, geträumt, irreal, surreal sei, erzählt Roland Schimmelpfennig in seinem Stück "Die Straße der Ameisen". Eine Familie wartet auf ein Paket, das 42 Jahre schon unterwegs sein soll. Es kommt auch an, mit banalem Inhalt, einem Glas, einem Kugelschreiber und ähnlichen Alltagsgegenständen, die sich aber als zaubrische Dinge erweisen. Das Glas wird nie leer, mit dem Kugelschreiber entsteht ausgezeichnete Lyrik usw.

Die Familie -Tochter (Kristina Kahlert), Mutter (Susanne Wende), Großmutter (Ute Hamm) und der Freund der Tochter (Lukas Bischof) - lebt in einer Dachwohnung (Ausstattung Andrea Kuprian), sieht ständig Telenovelas, wenn nicht die Nachbarin mit kaputter Waschmaschine den Strom versiegen lässt.

Was tatsächlich erlebt, geträumt, imaginiert wird -wir wissen es nicht, aber das ist auch nicht notwendig, denn irgendwie lebt das Publikum auf einmal in diesen Traumvisionen mit. Das ist das Verdienst der Regie von Irmgard Lübke, die das Personal des Stücks präzis abgestimmt hat, das das Publikum, so es willens ist, mit Engelsflügeln auf diese Reise in die Wolken mitnimmt, um die Erde von oben zu sehen. Ein interessantes Stück, eine gelungene Aufführung.

Geschichten aus dem Wiener Wald Salzburger Landestheater 14., 16. Feb., 12., 13., 21. März

Die Straße der Ameisen Schauspielhaus Salzburg 17., 22., 24. Feb., 3., 4. März

Brutalität vs. Tagträumereien Die "Geschichten aus dem Wiener Wald", in den späten 1920er-Jahren verfasst, weisen frappante Ähnlichkeiten zur heutigen gesellschaftspolitischen Situation auf. Schimmelpfennigs "Die Straße der Ameisen" bietet hingegen die Möglichkeit, der Realität für kurze Zeit zu entfliehen.

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