Reden aus dem Vorzimmer des Todes

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Das Thema der Schoa ist im Reden über den Tod wie die KZ-Häftlingsnummer im Unterarm nicht nur bei einem Nicht-Glaubenden wie Jean Améry eintätowiert (vgl. oben). Auch einer, der gerade mit dem Glauben die Hölle von Auschwitz überlebt hat, kann nicht umhin, heute wieder und neu das Vergangene in die Gegenwartserfahrung mit hineinzuholen. Erst recht dann, wenn es sich um eine Erfahrung zwischen Leben und Tod heute handelt.

Elie Wiesel, Friedensnobelpreisträger und unermüdlicher Erinnerer an eine Zeit, an die viele nicht mehr erinnert werden wollen, ist nicht nur ein hochbetagter Mann geworden - 84 Jahre -, sondern er wurde 2011 durch eine akute, beinah tödliche Herzkrankheit plötzlich und unvorbereitet in die auch für ihn letzten Fragen der Existenz geworfen. Aus den Erfahrungen der lebensgefährlichen Operation und dem für ihn als so empfundenen Zustand zwischen noch und nicht mehr Leben hat Elie Wiesel das Büchlein "Mit offenem Herzen. Ein Bericht über Leben und Tod“ verfasst.

Der Fluch des "Nie genug“

In einem Interview für die Jüdische Allgemeine hat Wiesel Ende September sein Ungenügen vor sich selber so beschrieben: "Was auch immer ich in meinem Leben gemacht habe - es war nie genug. Als Holocaust-Überlebender hätte ich noch mehr Zeugnis ablegen müssen von den Schrecken der Schoa, ich hätte noch mehr für die Menschenrechte kämpfen müssen, noch mehr helfen müssen. Es war einfach nicht genug.“ Und das quälende Rekapitulieren kulminiert im Satz: "Was habe ich schon erreicht?“

In den Zwischenraum geworfen, spannt sich das Feld zwischen dieser schmerzenden Frage nach dem existenziellen Scheiteren und dem ganz alltäglichen Ausgeliefertsein im modernen Medizinbetrieb, das aber im Angesicht des möglichen Todes doch lebensbedeutend wird. Elie Wiesel setzt sich und seine Leser genau dieser Spannung aus - und beschreibt sie, wie gewohnt, gekonnt produktiv und nachvollziehbar.

Es ist die Größe des Zeitzeugen, des Chronisten verblassender Erinnerung sowie des Schriftstellers, dass er andere Menschen daran teilhaben lässt. Schon allein dies darf der Leser mit Dankbarkeit entgegennehmen. Was das Büchlein aber erst recht kostbar macht, ist, dass in dem Zwischenzustand, in dem sich Wiesel wiederfindet - er nennt ihn einmal "meinen Limbus“ ein andermal "Vorzimmer des Todes“ - die Glaubensfrage nicht ausgespart bleibt. Und die stellt sich in diesem Angesicht des Todes, auch wenn die Umstände weit "friedlicher“ als in seiner Jugend sind, aufs Neue.

"Und Gott in all dem?“, fragt sich der sterbende und dann wieder doch lebende Wiesel. Einmal, so erzählt er, habe er, als man ihn fragte, welche Frage er Gott stellen würde, wenn er vor ihm stünde, gemeint, ein einziges Wort: "Warum?“ Aber Wiesels Erfahrung, nach der geschilderten Todesnähe: "Und die Antwort Gottes? Selbst wenn er sie mir mitgeteilt hätte, so kann ich mich nicht daran erinnern.“

Allein wegen dieses Satzes sollte man das Büchlein lesen. Denn die Frage mag bedeutungsschwer sein - und bedrängend. Die unmittelbare Antwort, so die verschmitzte Botschaft, klingt banal. Aber, Gott sei Dank, ist sie so und nicht anders ausgefallen.

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