Reisen als globalisierte Lebensform

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Der Holländer Cees Nooteboom muss ständig unterwegs sein, um die Ruhe zu finden, die er zum Schreiben braucht.

Der in Den Haag geborene Cees Nooteboom ist eine Klasse für sich. Auch dank seines Genres, das einen Großteil der Menschen das ganze Jahr über interessiert: seinem ausufernden Reisen. Im Sommer reisen wir alle, die restliche Zeit des Jahres träumen wir davon, leben in der Erinnerung an Reisen oder bereiten uns auf kommende vor. Für Nooteboom ist Reisen mehr als ein Ausspannen vom Alltag, für ihn ist es elementares Erlebnis, Lebensform.

Er hat sich als Motto für sein Leben und die Sammlung seiner besten Reiseberichte und Begegnungen die Worte des arabischen Philosophen Ibn Al Arabi aus dem 13. Jahrhundert genommen: "Der Ursprung des Daseins ist die Bewegung. Folglich kann es darin keine Bewegungslosigkeit geben, denn wäre das Dasein bewegungslos, so würde es zu seinem Ursprung zurückkehren, und der ist das Nichts. Deshalb nimmt das Reisen nie ein Ende, nicht in der höheren und auch nicht in der niederen Welt."

Reisen ist demnach keine Flucht, sondern eine stetige Suche, nicht nur nach dem Fremden, sondern auch nach der eigenen Persönlichkeit: "Auf Reisen lernt man sich selbst kennen." Reisen bekommt unter diesem Blickwinkel auch etwas von einer Pilgerfahrt: "In der Welt herumreisen und meditieren und Gott näherkommen." Da sich Nooteboom mit dem Begriff Gott in diesem Zusammenhang schwer tut, will er diese Instanz durch den Begriff Rätsel ersetzt wissen. Dies tut hier nichts zur Sache; dass der Dichter ein beständig Suchender ist, merkt man, und es lässt seine Reisen zum besonderen Vergnügen werden. In seiner assoziativen Art des Schreibens, seinen philosophischen Exkursen reisen wir in der Tiefe mit, ohne die Mühsal der Oberfläche, der Hitze und Gefahren. Nooteboom geht es bei seiner Suche um das Leben und das Verschwinden, um die Gegenwart und um die Zeit. Er braucht die Bewegung, um die Ruhe zu finden, die er für sein Schreiben braucht.

Angesichts seiner Reiseziele gelangt man wohl oder übel zur Einschätzung, dass er offenbar globale Bewegung nötig hat. In einer Zeit, in der mit Recht voll Sorge über die Globalisierung und die Bedrohung der Welt durch das Diktat des Kapitals gesprochen wird und sich dagegen Demonstrationszüge formieren, kommt dieser literarisch verbrämte globale Blick gerade rechtzeitig. Wer jetzt noch eine Bestätigung braucht, dass sein Urlaubsverlangen nicht unbedingt mit Nootebooms Reiselust vergleichbar ist, dem wird es alsbald zuteil. Für einen Literaten seines Zuschnitts gibt es offenbar kein lästiges Einpacken, kein Kribbeln in der Nacht vor der Abfahrt, und wenn es sich ergibt, polt er schnell entschlossen seine Reisepläne um. Als es mit der geplanten Reise in die Sahara nicht klappt, weil Mauretanien keinen Wert auf seine Recherchen legt, das Ticket nach Las Palmas jedoch bereits gebucht ist, entschließt er sich, trotzdem seiner Afrika-Sehnsucht nachzugeben und einen Flug nach Banjul zu nehmen, wo immer das liegen mag. In Gambia ist er gelandet.

Und weil er schon dort ist und eine Aufgabe braucht, versucht er, ein Interview mit dem Staatspräsidenten zu bekommen. Auch so kann man ein Land kennenlernen, seine Bürokratie, die Vertröstungen und die Wartezimmer der Mächtigen. Nooteboom stößt auf die Relikte des Kolonialismus, die "Gespinste und Spinnweben, all der Staub und Schutt, den Imperien zurücklassen, wenn sie ihre Koffer packen."

Andere Reisen führen ihn nach Mali, nach Bolivien, ins traurigste Land Nord- und Südamerikas: In 126 Jahren 175 Putsche, Staatsstreiche und Revolutionen: "Die Geschichte dieses Landes ist ein einziger ungestümer Leidensweg aus Grausamkeit, lächerlichen Gesten, verlorener Hoffnung, Apathie und Herrschsucht. Das Land, in dem nicht zuletzt auch Che Guevara ermordet wurde und in dem Geistliche versuchen, einen Funken Hoffnung für die Bergarbeiter am Leben zu erhalten."

Seine Reisen sind auch Besuche in der Vergangenheit, zum Beispiel im Anthropologischen Museum von Mexiko. Der Autor versteht es, seinen "Logenplatz im Saal der Zeit", von dem er in die Vergangenheit blicken kann, zu nützen. Er philosophiert über den Tod. 20.000 Menschen wurden von den Azteken der Sonne geopfert, damit sie wieder aufgehen möge. Nooteboom besteigt in Teotihuacán die Pyramide der Sonne und des Mondes, Relikte einer Kultur, die man sich nur mit Mühe vorstellen kann anhand der zurückgebliebenen "Hülsen": "Damit muss ich mich begnügen, nichtige Übungen im Unmöglichen."

Weiter im Orientexpress, er macht Station in Venedig und sieht sich mit einem Inventar von Heiligen konfrontiert, die der Interessierte "mehrmals an einem Tag in gotischer, byzantinischer, barocker oder klassischer Vermummung" betrachten kann, denn "Mythen sind mächtig und die Helden passen sich an. ... Einst waren sie damit betraut, die Macht ihrer Herren zum Ausdruck zu bringen in einer Zeit, in der jeder wusste, was sie verkörperten, Tugend, Tod oder Morgengrauen, Krieg, Offenbarung, Freiheit, sie spielten ihre Rolle in den Allegorien, die ihnen gewidmet waren, sie erinnerten an Bekenner und Kirchenväter, Feldherren und Bankiers; jetzt ziehen andere Heerscharen an ihnen vorbei, die der Touristen, die ihre Bildsprache nicht mehr verstehen, die nicht mehr wissen, was sie bedeuten oder bedeutet haben, nur ihre Schönheit ist geblieben."

Nooteboom reist auch zu Bildern, zu Metaphern, dahin zum Beispiel, wo die Kultur und Ideologie der Stilleben die realen Gestalten ablöst, Graf Käse, Baronin Auster und Marquise Tulpe lassen grüßen. Spannend sind selbstverständlich auch seine Besuche bei Persönlichkeiten wie beim toten Marcel Proust, der kurz ausfällt, oder beim lebenden Umberto Eco, in dessen Arbeitsweise man Einblick erhält, dessen Wissensdrang und Bücherliebe man vermittelt bekommt. Den Abschluss bilden Betrachtungen über alle Hotels, in denen Nooteboom gelebt hat. Enthalten die Zimmernummern zusammen eine kodierte Mitteilung über sein Schicksal, sein Wesen? Die Zahlen wurden nicht notiert, aber eine Spur wurde gelegt, ein Programm erstellt, welche Autoren er noch zu lesen sich vornehmen sollte, welche Bilder noch gesehen oder wiedergesehen werden müssten.

Nooteboom gibt gerne zu, selbst noch nicht am Ende seiner Reisen angekommen zu sein. Begonnen hat es vielleicht, als er, geweckt von der Stille, aus einem Hotel am Rande der Sahara in die schwarze Nacht hinaustrat: "Diese Nacht steht in mir geschrieben mit einem Wort, das ich nicht mehr lesen kann." Danach habe er sich für ein Leben entschieden, "ein schreibendes und beschreibendes Dasein in der Welt der Erscheinungen. Doch wie viele Worte muss man schreiben, um ein Wort lesen zu können." Kein Wort zuviel bislang.

Nootebooms Hotel

Reportagen von Cees Nooteboom

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000

518 Seiten, geb., öS 364,-/e 26,45

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