Reisen, Sehen, Schreiben

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Landschaften und städte Lesen wie ein Buch, Reisen aLs MeditieRen und aLs weg, zu sich seLBst, aLso auch nach hause zu finden: cees noote-BooMs BücheR eRzähLen, wie das geht.

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Landschaften und städte Lesen wie ein Buch, Reisen aLs MeditieRen und aLs weg, zu sich seLBst, aLso auch nach hause zu finden: cees noote-BooMs BücheR eRzähLen, wie das geht.

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Vor sieben Jahren bekam Cees Nooteboom einen merkwürdigen Auftrag. Die Accademia della Crusca in Florenz bat den niederländischen Schriftsteller, über einen Buchstaben des Alphabets zu schreiben. Nooteboom entschied sich für das "L" und stattete es mit einer kleinen Geschichte aus: Das große "L" besucht den Autor auf seinem Mittelmeerdomizil in Menorca und fordert ihm ein Bekenntnis zum Lesen und zum Laufen ab. Dieses Bekenntnis hängt aufs Innigste mit der Freiheit, italienisch: libertà, zusammen und ist pathetisch und biografisch zugleich. Laufen und Lesen: Denken und Bewegung gehören für Nooteboom zusammen. Der nachdenkende, sensible Gang durch Länder und Bücher zeichnet sein gesamtes Werk aus. Cees Nooteboom ist ein philosophierender Weltbürger, ein poetischer Wanderer "zwischen den Welten und Zeiten", dessen Leben aus Reisen, Sehen und Beschreiben besteht und der imstande ist, ein Universum in wenigen Sätzen auszudrücken.

Geboren ist Cees Nooteboom 1933 in Den Haag. Die Kindheit während der nationalsozialistischen Besatzungszeit hat ihn geprägt und früh sensibilisiert für die Schrecken von Krieg und Diktatur. In Den Haag beobachtet er im Mai 1940 den Einmarsch der Deutschen: "Die Straße ist breit, die Menschen am Rand sind still, und dazwischen, in der prächtigen Mitte, zieht und rattert die endlose graue Armee." Sein Vater kam 1940 beim englischen Bombardement auf Den Haag ums Leben; die Familie war evakuiert. Der Junge mit dem Taufnamen Cornelis Johannes Jacobus Maria wuchs fortan in katholischen Klosterschulen in Eindhoven und Venray auf.

Reisen als Schreib-und Lebensform

Sein erstes Geld verdiente Cees Nooteboom in Werbebüros, bei Banken und als Bote. Vom Stiefvater aus dem Haus geprügelt, fand er früh das Reisen als seine Schreib-und Lebensform. Er lief in Amsterdam als "Dandy ohne Geld" herum, mit Samtjacke, buntem Schal und Spazierstöckchen. Er schrieb mit 20 Jahren seinen ersten Reiseroman "Philip en de anderen", der 1955 erschien, ihn über Nacht bekannt machte und auch in der deutschen Übersetzung "Das Paradies ist nebenan" erfolgreich war. 1957 heuerte er eines Mädchens wegen als Leichtmatrose auf einem Klipper nach Surinam an und hielt dort beim Vater seiner Braut um deren Hand an -vergeblich, was ihn aber nicht daran hinderte, sie in New York zu heiraten. In den folgenden beiden Jahrzehnten schrieb Nooteboom neben Songtexten, Gedichten und Lyrikübersetzungen vor allem Reiseberichte, um seinen Unterhalt zu sichern. Sie sind in der stattlichen Werkausgabe bei Suhrkamp in vier Bänden gesammelt und bilden das Kernstück eines an Themen und Formaten vielfältigen Werkes.

Als Reiseschriftsteller ist Cees Nooteboom ein Weltbürger. Der Autor lebt in Amsterdam, in Berlin, auf Menorca, er hat fünf Erdteile, darunter fast alle europäischen Länder, bereist. "Ich ziele wie ein Pfeil / auf die Ferne, / aber in der Ferne / bin ich / weg", heißt es in dem Gedicht "Weg". Nooteboom liest Landschaften und Städte wie ein Buch. Reisen ist Meditieren und der beste Weg, zu sich selbst, also im übertragenen Sinne auch nach Hause zu finden. Faszinierend für den Leser werden Nootebooms Reisebeschreibungen vor allem dann, wenn die Einbildungskraft über die Wirklichkeit triumphiert. In der Provinz Toledo wollte er den Spuren von Cervantes folgen und fand doch nur die Spuren von Don Quichotte. Im Haus der Dulcinea in El Toboso stellte er fest: "Das echte Haus von jemand zu betreten, den es nie gegeben hat, ist keine Kleinigkeit." ("Der Umweg nach Santiago", 1992).

Der zweite Pfeiler des Werkes sind Romane. Der Durchbruch als Erzähler gelang Nooteboom 1980 mit "Rituale". Der Roman erschien 1984 in einem DDR-Verlag, 1985 in der Bundesrepublik und wurde 1989 verfilmt. Auch hier geht es um weltbürgerliche Themen, ungeachtet von Nation und Religion, um den Wert und das Risiko von Ritualen, um den Verlust des Paradieses und den Versuch der Rückkehr. Auch die späteren Romane, das in Los Angeles geschriebene Berlin-Epos "Allerseelen" (1999), der in Australien und Österreich spielende Liebesroman "Paradies verloren" (2004) und vor allem "Die folgende Geschichte" (1996), die kein Ende finden kann, weil die Poesie mit jedem Ende, also auch mit dem Tod etwas anfangen kann, erzählen unaufdringlich, untragisch, aber mit nicht zu unterschätzendem Ernst von der Suche nach den Letzten Dingen. Ein Altphilologe schläft in Amsterdam ein, wacht in Lissabon wieder auf und begegnet am Ende auf einem Schiff Figuren aus seiner Vergangenheit -auf einem Toten-Nachen.

Wachsamer Zeitgenosse

Nooteboom ist ein wachsamer Zeitgenosse und kluger Beobachter des politischen Geschehens. Das dokumentiert sein umfangreiches Berlin-Reisebuch "Berlin 1989/2009". Es ist persönliche Chronik und historischer Kommentar der einst geteilten, jetzt wiedervereinigten Stadt und umfasst Erfahrungen aus fast 50 Jahren. Im Januar 1963 bekam er in Ostberlin einen ideologischen Stadtführer in die Hand gedrückt, in dem Respekt vor der "Schutzmauer" gefordert wurde. Im November 1989 erlebte er den Fall dieser Mauer. Während die Menschen vom Osten in den Westen strömen und Trabis auf dem Kurfürstendamm fahren, macht er sich in umgekehrter Richtung in den Ostteil der Stadt auf und beobachtet die unmittelbaren Folgen der Selbstbefreiung des Volkes. Im Jahr 2008 besucht er die deutsche Hauptstadt erneut und nimmt den Umgang mit der Zeitgeschichte unter die Lupe. Nach diesem Prinzip des beschreibenden Reisens verfährt er auch im Essay "Wie wird man Europäer?"(1993). Europa ist für ihn mehr eine Erfahrung als eine Idee, und die Zukunft Europas ist für ihn nicht vorstellbar ohne seine Geschichte, die aus Geschichten besteht, die "anders klingen und dasselbe sagen wollen". Die Literatur ist also nicht das schlechteste Rezept im Prozess der europäischen Einigung.

Cees Nooteboom hat die wichtigsten Preise in den Niederlanden erhalten, er trägt zwei Ehrendoktoren und ist mit hohen europäischen Kulturauszeichnungen bedacht worden wie dem Europäischen Literaturpreis "Aristeion"(1993) und dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (2003). Am 12. Dezember 2010 wird er in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Es ist die erste große Würdigung in Deutschland. Dort hat er seit 1958 ein wachsendes und treues Publikum erobert, das seine esprit-und ironievolle, gestalterisch vielfältige Erzählweise schätzen gelernt hat. Mit Fantasie und Erinnerung denkt er sich "eine Wirklichkeit aus, in der er selbst nicht zu leben braucht, über die er aber Macht hat". Er versetzt Berge, und seien es die "Niederländischen Berge" in der gleichnamigen Novelle von 1987. Er ist ein Leser "großartiger Bücher voller unglaublicher Geschichten"."L" wie "Lesen" und "Laufen": Als der inspirierende Großbuchstabe unseren Autor am Ende verlässt, beobachtet der noch, ein Weltbürger in Zeiten des Internets, "wie es sich in der Ferne rasch ein Windows 2000 kursiv überzog und zu rennen begann, als begäbe es sich auf einen Marathonlauf".

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