Werbung
Werbung
Werbung

Henri Matisse und seine Kapelle in Vence. Zum 50. Todestag des Künstlers.

Wie könnte in einer Welt, deren wirtschaftliche, geistige, soziale - und, zu einem großen Teil, religiöse Strukturen selbst - geradezu antipoetisch und antimystisch sind, eine lebendige sakrale Kunst anders als durch ein Wunder neu entstehen?" Als Marie-Alain Couturier, der große Brückenbauer zwischen Kunst und Kirche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich, diese Analyse lieferte, hatte sich zumindest eines dieser Wunder bereits ereignet: die von Henri Matisse gestaltete Rosenkranzkapelle in Vence. Vor 50 Jahren verließen die beiden, in ihren letzten Lebensjahren freundschaftlich verbunden, die Bühne dieser Welt. Die Kapelle von Matisse in den Hügeln hinter Nizza löst auch heute noch Couturiers Hoffnung auf ein Wunder ein.

Matisse arbeitete zuerst als Jurist in einer Kanzlei, bevor er während der Genesung von einer Blindarmoperation zu malen begann. Aus dieser anfänglichen Spielerei entwickelte sich eine ernsthafte Beschäftigung, die einen ersten Höhepunkt im Studium beim großen Symbolisten Gustave Moreau fand. In seinem 36. Jahr schaffte Matisse dann den Durchbruch zu jenem Stil, der ihn berühmt machen sollte, zum Fauvismus. Er überwand den getupften Farbauftrag des Pointilismus, indem er die Farbpunkte zu größeren Farbflächen zusammenfasste. Durch den verstärkten Einsatz der Komplementärfarben steigerte er die Kontraste und umrandete zudem seine Figuren mit farbkräftigen Linien. In seiner weiteren Entwicklung verband er diese brillante Farbigkeit mit größerer kompositorischer Strenge und einer klar gewählten Vereinfachung der Formen mit einem starken Hang zum Ornamentalen. In späteren Jahren brachte das Experimentieren mit der Druckgrafik so überzeugende Zyklen wie "Jazz" hervor, und mit seinen Scherenschnittarbeiten setzte er auch neue Maßstäbe für die Malerei. Als sein Meisterwerk allerdings bezeichnete er die Rosenkranzkapelle.

Wie es zur Kapelle kam

Hatte die Karriere von Matisse mit einer Krankheit begonnen, so liest sich die Entstehungsgeschichte der Kapelle ebenfalls wie eine Krankengeschichte. 1942, als Matisse mit einer langen Krankheit in Nizza ans Bett gefesselt war, wurde er von einer jungen Krankenschwester, Monique Bourgeois, die später bei den Dominikanerinnen eintrat, gepflegt. Es entstand eine Freundschaft zwischen den beiden, die über die Jahre andauerte. Als die Dominikanerinnen in Vence einen neuen Konvent planten, wollte die nunmehrige Schwester Jacques-Marie sich daran mit einem Bild beteiligen und besprach mit Matisse ihre Entwürfe, was dazu führte, dass Matisse vorschlug, selbst ein Glasfenster zu entwerfen. Dann schaltete sich der junge Dominikaner Louis-Bertrand Rayssiguier, der sich zur Rekonvaleszenz in Saint-Paul-de-Vence aufhielt, in die Geschehnisse ein. Er fertigte eine Skizze für eine Kapelle nach seinen Vorstellungen an und schien damit genau die aktuellen künstlerischen Probleme von Matisse anzusprechen, den Übergang von einer künstlerischen Schrift der Erscheinungen hin zu einer künstlerischen Schrift des Sinns, dem Zeichen.

Linien und Farben

Matisse schuf schließlich mehrere Entwürfe für die Glasfenster. Daneben fertigte er Dutzende Skizzen für die drei in Fayencetechnik ausgeführten Arbeiten an den Wänden. Er studierte für den Kreuzweg einige große Lösungen dieses Sujets aus der Kunstgeschichte, für das Bild des Heiligen Dominikus saß Couturier Modell. Schließlich gelang Matisse eine überzeugende Synthese aus den religiösen und den künstlerischen Forderungen, die an die Kapelle herangetragen wurden. "Es ist wichtig, dass in unserer Konstruktion die religiöse Erhebung des Geistes auf eine natürliche Weise von den Linien und Farben kommt, die in der Einfachheit ihrer Beredsamkeit agieren", umriss er die sich selbst gestellten Aufgabe.

Wie intensiv die Auseinandersetzung für Matisse war, beschreibt er in seiner Grußbotschaft zur Einweihung der Kapelle: "Dieses Werk forderte vier Jahre an ausschließlicher und eifriger Arbeit und es ist das Resultat meines gesamten aktiven Lebens. Ich sehe es trotz seiner Unzulänglichkeiten als mein Meisterwerk an." Es gibt einige Stimmen, die sich damit beschäftigen, wie weit die Kapelle nun ein religiöses Kunstwerk sei oder ob Matisse nur gemäß seiner "Religion des Glücks", wie dies Pierre Schneider ausdrückt, seiner eigenen Kunst ohne tiefere Bindung an die Quellen des Christentums zu einem weiteren Meisterwerk verholfen hat. Matisse selbst schreibt im Blick auf den Kreuzweg, dass hier die "Begegnung des Künstlers mit dem Drama Christi" stattfindet; er wollte ihn zuerst in gleich geordneter Weise ausführen wie die beiden anderen Bilder in der Kapelle. "Dann aber fühlte er - Matisse spricht hier von sich selbst in der dritten Person - sich gepackt durch das Pathos dieses so tiefen Dramas und warf die Reihenfolge der Komposition durcheinander. Der Künstler wurde auf natürliche Weise zum Hauptdarsteller: statt das Drama reflektierend darzustellen, hat er es gelebt und auf diese Weise zum Ausdruck gebracht." Die Frage nach der "Religiosität" von Matisse bleibt zwiespältig.

Streit mit Picasso

Couturier hatte naturgemäß einen positiven Blick und notiert dementsprechend positive Aussagen von Matisse wie etwa: "Mein gesamtes Werk ist religiös ... Es ist schon eigenartig! Man wird geführt, man führt nicht. Ich bin nur ein Diener ... Ob ich an Gott glaube? Ja, wenn ich arbeite, wenn ich ergeben und bescheiden bin ..." Couturier lässt dieses Zitat in seinen Notizen offen auslaufen, in einer anderen Quelle geht es weiter: "Dennoch fühle ich ihm gegenüber keinerlei Dankbarkeit, denn es ist, als ob ich einem Gaukler gegenüberstände, dessen Tricks ich nicht durchschauen kann. Ich fühle mich dann um die Erfahrung betrogen, welche der Lohn für meine Mühe sein sollte. Ich bin undankbar ohne Gewissensbisse."

Darüber hinaus opponierte Picasso, mit dem Matisse in regem Austausch stand und bei deren Zusammenkünften auch Couturier fallweise dabei war, gegen das Projekt in Vence. Couturier notiert am 9. August 1948 einen Bericht von Matisse: "Picasso war wütend, weil ich eine Kirche mache. - Warum machen Sie nicht lieber einen Markt? Dort würden Sie Früchte und Gemüse malen. - Aber ich mache mir daraus wirklich nichts: ich habe Grüntöne, die viel grüner sind als die Birnen, und Orangetöne, die viel oranger sind als die Kürbisse. Also wozu sollte das gut sein? Picasso war wütend." Es wäre nicht verwunderlich, dass Matisse als der größere Gentleman im Vergleich mit dem raubeinigen Picasso Couturier gegenüber in religiösen Fragen wesentlich zurückhaltender Auskunft gab.

Durch Schönheit verwandeln

Die Geschichte hörte mit dem Ableben der beiden nicht auf, das schwierige Gespräch zwischen den Bereichen Kunst und Kirche ging und geht weiter. Just im Todesjahr von Matisse und Couturier eröffnete Otto Mauer, der von den Aktivitäten in Frankreich Kenntnis hatte, in Wien seine Galerie, um auf die Situation hierzulande angemessen zu reagieren. Ein Symposium Anfang Dezember in Nizza wird zwar die kleinen Siege von Couturier und seinen Mitstreitern Revue passieren lassen, aber hauptsächlich die Frage nach einer möglichen Weiterführung diskutieren, wie dies der Organisator, Antoine Lion, auf den Punkt bringt: "Wo sind heute die konkreten Positionen, welche Parteien sind beteiligt, welche Widerstände gilt es zu überwinden?" Es geht darum, die künstlerischen Fragen nicht als Beiwerk zu sehen, sondern als ein direktes spirituelles Problem, das Matisse für Couturier in seiner Kapelle so wunderbar gelöst hatte. "Als Matisse sagte: Ich will, dass sich die, die in meine Kapelle kommen werden, gereinigt und von ihrer Last befreit fühlen', dachte er zweifellos an den Charakter, den er dieser Kapelle zu verleihen verstand: kein Ort, an dem durch Glasfenster und Gemälde den Menschen komplexe Dinge beschrieben und beigebracht würden, die sie übrigens schon wissen, sondern ein Ort, der durch seine Schönheit ihr Herz verwanden würde: ein Ort, an dem die Seelen durch die Reinheit der Formen gereinigt würden." Ein zukunftsträchtiges Programm.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung