"Retter der Welt“ - sind wir das selbst?

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Dem diesjährigen Festwochenauftritt des bildmächtigen italienischen Theatermachers aus Cesena ging das Gerücht des Skandals voraus. Denn das schon im Juli 2010 bei Theater der Welt in Essen uraufgeführte "Sul concetto di volto nel Figlio di Dio“ hat in Paris, Berlin und anderswo zu heftigen Reaktionen von Gläubigen sowie von Vertretern der katholischen Kirche geführt. Und tatsächlich: auch in Wien, wo das Stück im Rahmen der Wiener Festwochen dreimal zu sehen war, kam es während der Vorstellungen im Burgtheater zu vehementen Protestkundgebungen. Was war passiert?

Mitfühlende Beziehung zum Gezeigten

"Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn“, so der deutsche Titel, ist kein Theaterstück im herkömmlichen Sinne. Die kaum sechzig Minuten dauernde Performance hat fast keine Handlung, sie kommt der Religion auf besondere Art sogar nahe, ist sie doch einem Andachtsbild nicht unähnlich. Wie diesem, das seit dem 13. Jahrhundert Jesus als leidenden Schmerzensmann zeigt, geht es auch Castellucci darum, dem Betrachter eine mitfühlende Beziehung zum Gezeigten zu ermöglichen.

Und das hat es in sich: Noch haben nicht alle Zuschauer Platz genommen, da wird ein in einen weißen Morgenmantel gehüllter, zittrig auf seine Gehhilfe gestützter Greis auf die Bühne geführt. Man setzt ihn links in eine kleine, ganz in Weiß gehaltene Sofalandschaft vor einen Fernseher. Auf der rechten Bühnenseite steht ein ebenfalls vollkommen weißes, ordentlich bezogenes Bett. Die Bühnenmitte ist weitgehend leer, nur ein kleiner Tisch mit Schüsseln und Handtüchern steht da. Ansonsten ist der Blick frei auf einen im Bühnenhintergrund hängenden, mehrere Meter großen Ausschnitt aus dem Jesusporträt des Malers Antonello da Messina aus dem 15. Jahrhundert. Castellucci hat das Bild mit Bedacht gewählt, denn Antonellos Christusbild markiert den Wandel vom heiligen Gesicht zum Gesicht, aus dem ein Subjekt blickt. Nach Hans Belting löste es sich vom Erbe der vornehmlich monologischen Ikonen und wurde dialogisch, das heißt, es scheint vom Betrachter und von der Wirklichkeit vor dem Bild Kenntnis zu nehmen.

Und die vor dem uns milde betrachtenden "Salvator Mundi“ (so der Titel des Gemäldes) ist einfach und von elementarer Menschlichkeit: Der Greis ist dement und inkontinent. Er stammelt unverständliche Sätze, dann weint er. Unter seinem Morgenrock quillt Kot hervor. Sein erwachsener Sohn pflegt ihn, wäscht ihn und wechselt ihm die Windeln. Doch kaum ist er fertig, der Sohn, und will, in weißem Hemd und Krawatte, zur Arbeit gehen, passiert das offenbar Unvermeidliche erneut. Braune Flüssigkeit läuft in dünnem Rinnsal die Beinchen des Alten hinunter, während sich im ganzen Theater ein penetranter Geruch ausbreitet. Wieder säubert der Sohn dem vor Scham Untröstlichen den Hintern. Dabei sind seine Gesten geduldig, zärtlich, ja liebevoll. Aber der Greis hat keine Kontrolle über sich. Als das Unglück zum dritten Mal passiert, macht sich allmählich Verzweiflung breit. Der Sohn geht nach hinten, lehnt sich auf Mundhöhe an das sanft blickende Christusbild und seufzt kaum vernehmlich "Jesus, Jesus!“

Dann kommt ein Schulbub auf die Bühne, legt seinen Basketball auf den Boden, öffnet seinen Rucksack und entnimmt ihm Spielzeughandgranaten, die er erschreckend fachkundig entsichert und emotionslos gegen das Bild schleudert. Donnernder Lärm, der noch verstärkt wird durch andere Kinder, die es dem Jungen gleichtun. Und hier setzen auch die lautstarken Schmäh- und Buhrufe, das Pfeifen und Zischen der Zuschauer ein, die allerdings, wie von Castellucci choreografiert, im Explosionslärm beinahe untergehen. Dann leuchtet eine Schrift auf, dort wo das Bild war: "you are my shepherd“; dann ändert sich die Beleuchtung und man kann ein "not“ erkennen: "you are not my shepherd“.

Der (un)mögliche Sprung ins Leere

Wir leben in einer Zeit, in der scheinbar allein der Umgang mit religiösen Themen noch einen Skandal zu provozieren vermag. Und doch wäre es unangebracht, Castellucci auch nur einen Hauch von Skandalkalkül zu unterstellen! Sein Theater ist zwar verstörend, aber es ist weder blasphemisch noch gibt es einem Skandal Nahrung, es ist kein Ereignis im Sinne eines Spektakels, sondern der ernsthafte Versuch, mit Kunst Erkenntnisse zu erzeugen.

Obwohl das Theater nicht mehr das bevorzugte Medium der kollektiven Selbstverständigung einer Gesellschaft ist, kann "Sul concetto di volto nel Figlio di Dio“ verstanden werden als Versuch, dem allgemeinen Unbehagen an der entzauberten, als leer wahrgenommenen Welt durch ein Suchen nach etwas anderem, das den zusammen mit der Transzendenz verloren gegangenen Sinn ersetzen könnte, zu begegnen. Indem er die Aufmerksamkeit schonungslos auf uns, die menschliche Unzulänglichkeit, die menschliche Natur, an deren Ende der Verfall, der Tod steht, lenkt und Christus stumm uns zuschauen lässt, reagiert Castellucci auf die Melancholie der Moderne: das Gefühl der Verlassenheit. Doch die Ursehnsucht des Menschen ist die nach Resonanz. Und wenn die ausbleibt, so möglicherweise sein Vorschlag, wäre die Rettung vielleicht ein Zuwachs an Menschlichkeit. Castelluccis spirituelle Alternativquelle heißt Barmherzigkeit. "Salvator Mundi“ - das sind wir selbst. Doch sicher ist auch er sich nicht. Und das ist richtig so, denn wie Karl Barth schrieb, ist "der Glaube für alle der gleiche Sprung ins Leere. Er ist allen möglich, weil er allen gleich unmöglich ist.“

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