Revolution und Demokratie 1848-1918

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Zur "vergessenen Revolution von 1848": Im Palais Niederösterreich in Wien wird noch bis 31. Oktober eine vom Österreichischen Staatsarchiv und vom Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung gestaltete Ausstellung gezeigt. Die Ziffer 8 im Logo liegt quer - das mathematische Zeichen für "unendlich" charakterisiert die "Revolution in Permanenz", die aus dem 19. Jahrhundert des Bürgertums, der Wissenschaft und Technik in die digitale Gegenwart von 4.0 reicht. Hier, an diesem historischen Ort, wurden am 13. März 1848 die ersten politischen Reden gehalten, hier trat der "Bauernbefreier" Hans Kudlich auf (Gedenktafel!). Die Studentendemonstration gegen ein erstarrtes, repressives System initiierte den Prozess der bürgerlichdemokratischen Revolution.

Die Stoßkraft der Industrialisierung war die "Lokomotive der Geschichte", der Motor der sozialen Bewegung, im Widerstreit der Nationen und Nationalismen des Vielvölkerreichs. Die Revolution im Kaisertum Österreich wurde mit Militärgewalt unterdrückt, ihre Forderungen verdrängt, die Träger ihrer Ideen getötet und vertrieben -der Radetzkymarsch als Hymne der Konterrevolution!

Kälte, Krankheit und Tod

Die Arbeiterbewegung sah sich als Erbe und Vorkämpfer der demokratischen Revolution, erinnert im Symbol der Märzgefallenen, hin zum 1907 durchgesetzten allgemeinen (Männer-)Wahlrecht als politische Gleichberechtigung. Es waren die austromarxistischen Theoretiker Karl Renner und Otto Bauer, die das Nationalitätenproblem auf das Prinzip der Gleichberechtigung der Nationalitäten zurückführten. Der imperialistische Krieg hatte die Ansätze zur inneren Erneuerung der Habsburgermonarchie zunichte gemacht. So war es mehr als ein Zufall, dass sich am 21. Oktober, als sich militärische Niederlage und Zerfall der Monarchie ankündigten, inmitten von Hunger, Kälte, Krankheit und vieltausendfachem Tod die 1911 gewählten Reichsratsabgeordneten aus dem deutschen Sprachgebiet versammelten - nicht im Parlament, sondern im barocken Landhaussaal: 106 vom Deutschen Nationalverband, 65 Christlichsoziale, 38 Sozialdemokraten.

Die Stärke der Deutschnationalen resultierte aus der Präsenz von Abgeordneten aus Böhmen, Mähren und Schlesien. Zur Eröffnung erklärte der deutschnationale Vorsitzende Viktor Waldner, "das aufzubauende Gemeinwesen" habe "nur unserem Volke allein zu dienen". Victor Adler, Begründer der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, hingegen entbot "unseren slawischen und romanischen Genossen brüderlichen Gruß". Falls sich der "freie Völkerbund" nicht verwirklichen lasse, müsse der "deutsch-österreichische Staat" sich als "Sonderbundesstaat dem Deutschen Reiche angliedern" - jedenfalls als "echter Volksstaat". Einzelne Hochrufe auf die "deutsche Republik" erklangen, als sich die "provisorische Nationalversammlung des selbständigen deutsch-österreichischen Staates" einmütig konstituierte. Die Frage des "Anschlusses" an Deutschland war hier vorweg genommen, bedingt auch durch den Anspruch des Staatsgebiets auf die vorwiegend deutschen Siedlungsgebiete der böhmischen Länder, später Sudetenland genannt. Selbst die Kriegszensur hatte nicht verhindern können, dass das traditionelle Gedenken an 1848 revolutionäre Dynamik gewann, wie die Artikel der Arbeiter-Zeitung und im Kampf belegen. Am 16. Oktober 1918 proklamierte Otto Bauer: "Und der Sieg der deutschen Demokratie wird der Sieg des deutschen Proletariats, des deutschen Sozialismus sein."

Thronverzicht in Schönbrunn

Formal also fand die Staatsgründung auf legalem, parlamentarischem Boden statt. Die Revolution war schon im Gange, mit der ausstrahlenden Dynamik der russischen Oktoberrevolution 1917 "an alle, alle, alle!" Das letzte Kriegsjahr 1918 setzte mit dem großen Jännerstreik in den Industriegebieten ein, Arbeiterräte bildeten sich. Anders als die Bolschewiki verhinderte die sozialdemokratische Führung, verbal-radikal taktierend, eine revolutionäre Machtergreifung - weiterhin Otto Bauers tragisches Dilemma zwischen parlamentarischer Demokratie und "Diktatur des Proletariats".

Noch wurde die Meuterei der Kriegsflotte in Cattaro im Keim erstickt, doch wankte nach der letzten Italienoffensive die Front, selbst der Frieden von Brest-Litowsk brachte nicht die erhoffte Entlastung. Vergeblich hatte Kaiser Karl I. versucht, das Bündnis mit dem Deutschen Reich zu lockern, nun öffnete er -zu spät - mit dem "Völkermanifest" vom 16. Oktober 1918 der nationalen Auflösung der Habsburgermonarchie das Tor -wie schon US-Präsident Woodrow Wilson im Jänner 1918 angekündigt hatte, es sei "den Völkern Österreich-Ungarns die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung zu gewähren". Wenn der letzte Kaiser die Umgestaltung der Monarchie im Sinne des Selbstbestimmungsrechts "zu einem Bundesstaat, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiet ein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet", verhieß, brach er dieses Prinzip mit der ausdrücklichen Ausnahme Ungarns. Gleichzeitig war die Problematik der Nachfolgestaaten vorweggenommen.

In den letzten Oktobertagen beschritten die Slawen in Nord und Süd und Ungarn den Weg zur staatlichen Selbständigkeit -synchron mit der zweiten Sitzung der provisorischen Nationalversammlung im Landhaus am 30. Oktober. Im Vorfeld hatten die Abgeordneten vom noch schwarz-gelb beflaggten Parlament, in einer zweistündigen Sitzung, Abschied genommen; das Herrenhaus brauchte dazu fünf Minuten. Mit der Einsetzung des Staatsrats wurde die demokratische Staatsgewalt begründet. Der federführende Karl Renner, einst Bibliothekar des Reichsrats, bildete als Staatskanzler gewandt die erste Regierung der Staatssekretäre - Victor Adler übernahm das Außenamt. Adler starb am 11. November, dem Tag des Thronverzichts Karls in Schönbrunn, einen Tag vor der Proklamation der Republik Deutsch-Österreich als "Bestandteil der Deutschen Republik". Vor dem Landhaus hatten sich zahlreiche Demonstranten eingefunden. Die von der Arbeiter-Zeitung beschworene Einheit à la 1848 war Illusion. Die Wacht am Rhein, das Deutschland-Lied und die Internationale klangen durch- und gegeneinander. Beschimpfungen wie "Hohenzollernknechte" und "internationales Gesindel" wurden laut. Auf den Balkon hinaustretende Abgeordnete, welche die Staatsgründung verkünden wollten, konnten sich nicht verständlich machen.

Tumult, Schießerei und Panik

Dreißig Jahre später sollte Karl Renner, Republikgründer zum zweiten Mal, nunmehr im Amt des Bundespräsidenten, ein Gemälde von Max Frey in Auftrag geben: "Die Ausrufung der Republik vom Balkon des NÖ Landhauses in der Herrengasse zu Wien am 30. Oktober 1918" (Heeresgeschichtliches Museum), ein Wunschbild mit zahlreichen schwarz-rot-goldenen und roten Fahnen, die wie Fragezeichen einer ungewissen Zukunft über der vielköpfigen Menge schweben. Auch der 12. November als der Tag der offiziellen Proklamation der Republik trug diesen Widerspruch in seiner politischen Symbolik weiter. Die Fotografien zeigen ein Spruchband "Hoch die sozialistische Republik" auf der von Rotgardisten besetzten Parlamentsrampe. Schon der Oktober hatte die Widersprüche gezeigt, die sich an diesem trüben Novembertag verdichteten: die Hissung roter Fahnenreste statt dem als Kompromiss gewählten Rot-Weiß-Rot, Tumult, Schießerei und Panik.

Zwischen den Schicksalstagen in Landhaus und Parlament lag der 3. November 1918, der Tag des unseligen Waffenstillstands von Villa Giusti bei Padua, der Gnadenstoß für die sich chaotisch auflösende k. u. k. Armee, der für Franz Theodor Csokors Dramentitel zum Schlüsselsymbol wurde. Gleichfalls am 3. November wurde in den Favoritner Eichensälen die Kommunistische Partei Deutschösterreichs gegründet. Am selben Tag appellierten Lenin und Swerdlow in Moskau "An die Arbeiter, Soldaten und Bauern aller Völkerschaften Österreich-Ungarns":"Es lebe die Freiheit der Völker Österreichs, der Ungarn, Tschechen und Slowenen! Es leben die Arbeiter-,Bauern- und Soldatenräte in Österreich-Ungarn! Es lebe ihr Bündnis untereinander und mit den Sowjets Rußlands zum gemeinsamen Kampf!" Er hoffte, dass "auf den Plätzen Wiens schon der erste Tag der österreichischen Arbeiterrevolution gefeiert werde".

Zugleich probte die Rote Garde mit dem Reporter und Schriftsteller Egon Erwin Kisch eine Kundgebung vor dem Reichsrat, und der Schriftsteller Franz Werfel agitierte vor dem Gebäude des Wiener Bankvereins. Im Polizeiverhör konnte er aber glaubhaft machen, gewaltfreier Anhänger des Urchristentums und Tolstois zu sein

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