Richtiges Leben im falschen

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Worüber soll ich noch schreiben, seit ich die blutenden Kinder von Beslan gesehen habe? Seit die Flugzeuge auf dem Weg nach Wolgograd und Sotschi abgestürzt sind? Seit den Selbstmordattentaten von Beersheba, seit den letzten 70 Toten im Irak? Seit Präsident Putin nichts anders einfällt, als noch härter vorzugehen, seit Premier Sharon wieder mit Raketen auf das Flüchtlingslager Khan Yunis schießt und seit Präsident Bush behauptet, sein Krieg habe die Welt sicherer gemacht? Zwar erreichen die Terroristen nicht, was sie erpressen wollen, aber sie haben das Gesetz des Handelns erfolgreich an sich gerissen. Die Politik tanzt nach ihrer Pfeife und lügt sich in den Sack.

"Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt", schrieb Bertolt Brecht an die Nachgeborenen. Darf also der Spätsommer mit der wunderbaren Verfärbung der Bäume kein Thema mehr sein? Sind die neuen Schulkinder keiner Beachtung wert, weil die Kinder von Beslan an ihrem ersten Schultag eine Welt des Grauens erlebt oder nicht überlebt haben?

Theodor Adorno schrieb einen fragwürdigen Satz in seine "Minima Moralia": "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Haben die Katastrophenberichte schon das richtige Leben vergessen gemacht? Retter mühen sich ab, Ärzte versorgen die Opfer, Lebensmittel werden nach Darfur geschafft. Davon liest man immerhin, während die ganz alltägliche Normalität, das gewöhnliche richtige Leben mitten in einer Welt des menschenverachtenden Terrors und der politischen Lüge nicht in die Schlagzeilen kommt. Aber dieses Leben gibt es. Und über Bäume und Kinder nicht mehr zu schreiben, würde den Predigern und Terroristen des falschen Lebens das Feld zu überlassen.

Der Autor ist freier Publizist.

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