Roman als Wechselbad

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Einar Mar Gudmundsson erzählt das Leben seines toten Bruders aus dessen Blickwinkel.

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Einar Mar Gudmundsson erzählt das Leben seines toten Bruders aus dessen Blickwinkel.

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Einar Mar Gudmundsson, Islands großer Erzähler, stürzt die Leser seines neuen Romans in ein Wechselbad der Gefühle. Er beginnt ihn als todtraurige Geschichte eines unglücklichen Lebens, geht dann zu einem Stakkato politischer Anspielungen über und spickt, nachdem alle, die sich keiner Traurigkeit aussetzen wollen, schon zu lesen aufgehört haben, seine Erzählung immer dichter mit witzigen, absurden, tragikomischen Begebenheiten, wodurch das Buch, seinem tragischen Inhalt und erzählerischen Grundton zum Trotz, stellenweise erstaunlichen Unterhaltungswert gewinnt.

Zum Beispiel, wenn es dem Kleppur-Patienten Oli an einem kalten Tag im Februar einfällt, "nach Bessastadir zu gehen und dem Präsidenten guten Tag zu sagen. Oli spazierte von Kleppur hinaus nach Alftanes, und als er bei Bessastadir angekommen war, klopfte er an die Tür. Ein korpulente Frau in schwarzem Kleid und weißer Schürze machte auf. Es war kurz vor einem Essen oder einem Empfang."

Zufällig kommt der Präsident gerade selbst ins Vorzimmer und es entspinnt sich ein aberwitziger Dialog zwischen Oli, der sich für den tele-pathischen Liedertexter der Beatles hält, und dem Präsidenten Islands, der ihm versichert, er könne selbstverständlich ohne weiteres ebenfalls Präsident werden, wahrscheinlich sogar ein ausgezeichneter Präsident. Der Präsident bringt ihn zur Tür, doch dann fällt Oli noch etwas ein: ",Sag mal, da ich ja nach dir Präsident werde, meinst du nicht, es wäre in Ordnung, wenn ich den Wagen etwas früher kriege?'

,Doch, das muß wohl so sein', sagte der Präsident und lachte.

Dies wäre nicht erzählenswert gewesen, hätte nicht Oli Beatle ein paar Tage später Ausgang gehabt, mit Eysteinn als Wärter", und, als der Fahrer des Präsidenten zu einem Schwätzchen ausstieg, die Gelegenheit genutzt.

Das Buch handelt von Palmi, dem älteren Bruder des Dichters, der als Patient in Kleppur, der Anstalt für Geisteskranke in Reykjavik, starb und dem Einar Mar mit der Hauptfigur Palli ein Denkmal setzt. Der Roman ist in der Ichform geschrieben, als Rückschau eines überaus lebendig wirkenden Toten auf sein Leben: "Als Papa und Mama kamen, um die Gegenstände abzuholen, die mir gehörten, lag ein schwarzer Plastiksack auf dem Boden. In ihn hatte der Hausmeister die meisten Sachen gepackt, die verstreut im Zimmer herumlagen."

Gudmundsson bringt ein ganz besonderes Kunststück fertig: Einerseits stellt er die Welt der "Gesunden" gründlich in Frage und bestätigt damit tatsächlich den Verdacht, daß es angesichts der rasanten Veränderungen, in die Island auf seinem überstürzten Weg in die Moderne hineingerissen wurde, manchmal nur davon abhängt, auf welcher Seite man steht, ob jemand als verrückt gilt oder als normal. Daß diese Verlagsaussage nicht nur für Island zutrifft, macht Gudmundssons Erzählung, oder jedenfalls diese Facette der Erzählung, überall aktuell, wo heute rasante, überstürzte Veränderungen stattfinden, und wo auf der Welt wäre dies nicht der Fall.

Zugleich nimmt der Erzähler aber in einem imponierenden Spagat die Krankheit des Bruders (und damit ihn selbst mit seinem Schicksal) ernst, relativiert sie nicht, überhöht sie nicht zum sozialen oder politischen Phänomen, was sie selbstverständlich auch ist, aber in der Verabsolutierung auf eine Verniedlichung der persönlichen Tragik hinausliefe.

Er erweist sich als hinreißender Erzähler, als knapper Formulierer, als Meister von Metaphern, die sich einprägen, atemberaubender Sätze, aber auch plötzlicher, oft überraschender Sprünge zwischen Poesie und Realismus, vom Blick zu den Sternen zu den Pfützen auf der Straße, vom tiefen Ernst zu Ironie und Komik.

Er ist, auch dies ein schier unglaublicher Spagat, ein harter Kritiker (vor allem der zum Teil sehr rückständigen Psychiatrie - aber ist sie anderswo soviel weiter?) und zugleich ein verständnisvoller Schilderer is-ländischer Verhältnisse. Es gibt in seinem Roman keine ganz Guten und keine ganz Bösen und dafür, in allen Abstufungen, um so mehr Dumme, sehr Dumme, ein wenig Dumme, nur ganz wenig Dumme, und auch ein paar mehr oder weniger oder sogar sehr Anständige, wobei freilich der Anständigste, Netteste, am wenigsten Dumme eines Tages seinen Wagen von einem Felsplateau in die Tiefe lenkt, obwohl er erfolgreich, glücklich verheiratet und kein Patient von Kleppur ist.

Die Grenze zwischen den Kleppur-Patienten und den anderen ist eben mitunter hauchdünn, verwischt, in den guten Zeiten der Patienten kaum zu erkennen, aber, und auch dies spricht für Gudmundssons unbestechlichen Blick oder vielleicht noch mehr für seine Erfahrung als Bruder des schizophrenen Pall: Sie ist eigentlich immer da. Sie wird manifest, wenn es die "Gesunden" mit den "Kranken" beim besten Willen nicht mehr aushalten. Dieser "beste Wille" ist nicht in allen Familien gleich stark ausgeprägt, aber die Entscheidung, daß der Weg hinaus nach Kleppur wieder einmal fällig ist, spitzt sich so oder so zu, bis sie überfällig wird, ob nun einer seine Geschwister terrorisiert, den Tisch mit dem Essen umwirft, den Vater beraubt, um sofort nach Amerika fahren zu können, sein Zimmer in eine Festung verwandelt, sich von einer Brücke ins Wasser stürzt oder für Hitler hält.

Thema ist auch die Hilflosigkeit der Gesellschaft einschließlich ihrer Psychiater angesichts des Phänomens Geisteskrankheit, das mit keinem Satz verniedlicht wird. Die Gesellschaft ist an vielem schuld, und davon zu reden, gibt dem Dichter allein schon die Tatsache Gelegenheit, daß Palmi/Palli am 22. April 1949 geboren wurde, an dem in Reykjavik wegen Islands NATO-Beitritt die Steine flogen. Doch dafür, daß Menschen an Schizophrenie erkranken, kann nur Gott, und "wenn Gott nicht tot ist, ist er so schwerhörig wie blind. Hinter der Glasluke ist niemand; nur Telefon, Zeitung und Tisch; der Pförtner ist verschwunden wie Gott."

P.S.: In einem Buch, dessen Übersetzung die isländische Schreibweise samt durchstrichenem "d" so getreu wiedergibt, hätte ein Hinweis auf die Aussprache nicht geschadet.

ENGEL DES UNIVERSUMS Roman von Einar Mar Gudmundsson Übersetzung: Angelika Gundlach Carl Hanser Verlag, München 1998 200 Seiten, Ln.., öS 256,

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