Roman für Spürhunde

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Norbert Gstreins neuer Roman: Blicke durchs Schlüsselloch oder Literaturbetriebssatire?

Seit Jahren werden Vorgänge rund um den Suhrkamp-Verlag landauf, landab öffentlich kommentiert. Im Mittelpunkt der Gerüchteküche stand Siegfried Unselds Witwe Ulla Berkéwicz, Autorin und nunmehrige Verlagsleiterin. Seit Norbert Gstrein, der von Suhrkamp zu Hanser wechselte, vor Wochen ankündigte, sein Roman erinnere an eine Konstellation im Verlag, wartete der Literaturbetrieb auf eine Abrechnung mit Verlag und Leiterin.

Nun ist sie da, die ganze Wahrheit, die keine ist. Wer Gstreins Werke kennt, vermutete ohnehin, dass der Titel ironisch gemeint ist, und erwartete das Erzählen der Unmöglichkeit, die ganze Wahrheit zu sagen. Philip-Roth-Lesern fällt beim Titel vielleicht dessen „autobiografischer“ Roman „Facts“ („Tatsachen“) ein, in dessen Rahmenhandlung der Autor seine Romanfigur fragt, was sie von seinem Schreiben über die „Tatsachen“ hält.

Mit Spannung schlägt daher selbst eine nicht nach Skandal und Enthüllung lüsterne Leserin das Buch auf, die wissen will, ob Gstrein ein Werk gelingt, das sich mit „ganzen Wahrheiten“ kritisch auseinandersetzt. Doch ob man will oder nicht: Vom ersten Satz an ist man mitten im Entschlüsselungsspiel. Gstrein hat Personen umgetauft und Orte verschoben. Der Verlag ist nicht groß und bedeutend wie Suhrkamp, sondern klein und in der Wiener Schönlaterngasse beheimatet; die um viele Jahre jüngere Frau des Verlagsleiters Heinrich Glück, die nun die Verlagszügel in die Hand nimmt – eine Frau mit esoterischen Allüren, gnostischen Ideen und erfundener jüdischer Großmutter –, stammt aus einem Kärntner Dorf; Gstreins Kritik bezielt also vielleicht vor allem die österreichische Szene.

Weitere Assoziationen

Die Verschiebungen könnte man als Schutzmaßnahme vor dem echten Rechtsanwalt lesen, ein Thema, das sich fast enervierend durchs Buch zieht. Doch sie machen die Sache auch komplexer, denn nun können sich noch ganz andere Personen auf den Schlips getreten fühlen: Kann man in Wien den Namen der Witwe, Dagmar, oder den Umstand, dass sie in einer Hietzinger Villa wohnt und Exfrau Edith ablöste, ohne weitere Assoziationen lesen? Also doch ein Schlüsselroman. Die eigene Fantasie muss man dann selbst in die Grenzen weisen; wenn man es nicht tut, kann der Autor seine Hände in Unschuld waschen.

Dabei bietet er Spürhunden auch Gustostückerl aus dem Literaturbetrieb, den der Ich-Erzähler, Lektor und Vertrauter des Verlegers, als „österreichische Literaturfolklore“ belächelt. Vom Winkler’schen „Kälberstrick“ bis zu Anspielungen auf Kehlmann, Bernhard und Gstrein lässt sich allerlei auffinden – selbst Wilkomirski, der Autor der gefälschten Lagererinnerungen, die bei Suhrkamp erschienen sind. Eine Satire über den Literaturbetrieb?

Spannende Themen

Doch wo bleibt, was den Roman jenseits der Entschlüsselungsversuche interessant machen könnte? Die Themen wären spannend und passten zu Gstrein: Lesern den Spiegel ihrer eigenen Sensationslust vorhalten, die Erzählbarkeit eines Lebens erkunden, den Kampf um Erinnerung. Wem gehört eine Person, wer darf sich wie an sie erinnern? Das alles spielt eine Rolle, kommt aber nicht zum Klingen, weil die exaltierte Frau, die bald nicht mehr interessiert, nein: weil dieser Blick des Lektors auf die Frau das Buch so dominiert. Gstrein bietet kaum Perspektivenvielfalt, verzichtet auf literarische Mittel, die die Enthüllungslust stören und entlarven könnten. Warum hat er die Glaubwürdigkeit des Ich-Erzählers nicht in Schwebe gebracht? Der Lektor empfindet das Buch, das die Witwe über den verstorbenen Verleger schrieb, als Zumutung und schreibt nun ein Gegenbuch, nämlich dieses. Andeutungen gibt es, dass er dem Alkohol zugetan ist – aber vielleicht ist das eine Unterstellung. Möglich wäre auch ein ironisches Korrektiv der Geschichte durch eine andere Figur: Diese Rolle hätte Bella, die junge Kollegin, übernehmen können, doch sie kommt kaum zu Wort. Erfrischend ist deshalb der selbstironische Ausflug in das Tiroler Dorf, wo sich am Friedhof fast nur Falkners und Gstreins finden.

Wer Gstreins Schreibweisen kennt und schätzt, vermisst hier den vollen Einsatz seiner Fähigkeit, mit Zweifel an der Sprache zu schreiben, mit Zweifel an der Wahrnehmung und an der Sagbarkeit des Wahrgenommenen. Eine solche Schreibweise wäre gerade angesichts des üblich gewordenen öffentlichen Ausschlachtens von „ganzen Wahrheiten“ von Personen angebracht. Gstrein spielt zwar mit dem Bedürfnis, die ganze Wahrheit finden zu wollen, bedient es andererseits aber auch. Dieser Roman wird nicht als Gstreins bestes Buch in die Literaturgeschichte eingehen. Aber vielleicht ist der leidige Literaturbetrieb hiermit als Thema weggeschrieben, dann kann man sich aufs nächste Buch freuen.

Die ganze Wahrheit

Roman von Norbert Gstrein Hanser 2010

302 S., geb., e 20,50

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