Mein Gedächtnis hat Schwächen im Systematischen, Stärken im Assoziativen. Ich kann mir die Handlung eines Romans, den ich vor 20 Jahren regelrecht studiert habe, nicht mehr in Erinnerung rufen, aber ich weiß noch ganz genau, dass damals, als ich Dostojewskis "Dämonen" las, der Herbst ungewöhnlich schön war. Ich weiß, dass ich, von der Schilderung eiskalter russischer Nächte aufblickend, aus dem Fenster der Kellerwohnung in der Salzburger Vorstadt dem Kastanienbaum dabei zuschauen konnte, wie sich seine Blätter verfärbten. Und ich sehe wieder, wie meine Freundin, die später meine Frau wurde, zu Mittag mit ihrem Fahrrad das klapprige grüne Gartentor aufstößt und das Fahrrad an die Hausmauer lehnt … So viele Einzelheiten aus der Gegend, in der wir wohnten, so viele Dinge, die damals geschahen, kann ich mir dank eines Romans vergegenwärtigen, dessen Handlung ich vergessen habe.
Darum leuchtete mir auch sogleich ein, wovon ich kürzlich erfuhr. Für die Patienten einer geriatrischen Pflegestation, die ja stets die Verlockung verspüren, sich mit dem Verlöschen des Bewusstseins, dem Verlust ihrer Erinnerungen abzufinden, wurde eine neue Therapie erprobt. Wenn es Mittag wird und die alten Leute, die selbst den Appetit und Durst vergessen haben, zum Essen in den Speisesaal kommen sollen, ertönt aus den Lautsprechern der Station die akustische Signatur der Radiosendung "Autofahrer unterwegs", und dann folgt die gut gelaunte Begrüßung der Zuhörer im Sendesaal und zuhause vor den Geräten durch die unvergessliche Stimme der Rosemarie Isopp. Die Sendung Autofahrer unterwegs gibt es schon seit Jahren nicht mehr; die Berichte zur Lage auf Österreichs Straßen kommen aus einer Vergangenheit, die alles verschlungen hat, aber trotzdem geeignet ist, manche Patienten aus dem Schlaf des Bewusstseins zu wecken und ihnen so zu einer befristeten Gegenwart zu verhelfen. Bei mir möge man es dereinst mit dem Verlesen von Buchtiteln versuchen.
