Sally Perel  - © FOTO: APA/dpa/Marijan Murat

Sally Perel: "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung"

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Sally Perel: als Jude verfolgt, später als begeisteter Hitlerjunge den Tätern zugehörig. Mit der FURCHE sprach der Autor über seine Lebensgeschichte und Identität.

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Sally Perel: als Jude verfolgt, später als begeisteter Hitlerjunge den Tätern zugehörig. Mit der FURCHE sprach der Autor über seine Lebensgeschichte und Identität.

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Ende der 1980er-Jahre hat Sally, 1925 in Peine geboren, seine verstörende Autobiografie vorgelegt. Er bekannte sich als deutscher Jude dazu, Opfer und Täter in einem gewesen zu sein. Sein Leben als "Hitlerjunge Salomon" wurde vor 25 Jahren unter der Regie von Agnieszka Holland erfolgreich verfilmt.

DIE FURCHE: In Ihrem Buch "Ich war Hitlerjunge Salomon" beschreiben Sie die unglaublichen Wendepunkte Ihres Lebens nach Ihrer Geburt 1925 in einer deutschen Kleinstadt. Wo begann für Sie der Leidensweg aus einem behüteten Elternhaus in Niedersachsen über Flucht, Armut und Verfolgung bis zur Annahme einer neuen Identität?

Sally Perel: Die Odyssee des Leidens begann, als wir wegen der Verfolgung jüdischer Bürger Deutschland verlassen mussten. Wir sind 1938 nach Polen geflüchtet, nach Lodz. Aber kaum haben wir uns dort eingelebt, die polnische Sprache gelernt, mussten wir wieder flüchten, weil Deutschland 1939 Polen überfallen hat. Alle Juden mussten ins Ghetto und meine Eltern wussten, da kommt man lebendig hinein, aber nicht wieder hinaus. Ich war 14, mein Bruder 30, und unsere Eltern meinten, wir sollten nicht ins Ghetto, sondern weiter nach Ostpolen flüchten, das von der Roten Armee besetzt war. Meine Eltern hatten nicht mehr die Kraft, weiter zu flüchten, sie blieben mit meiner Schwester im Ghetto. Ich flüchtete mit meinem Bruder weiter, und meine Eltern gaben mir zwei wichtige Botschaften mit, die bis heute in meinem Leben eine zentrale Rolle spielen.

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DIE FURCHE: Welche Botschaften waren das?

Perel: Ich solle immer an Gott glauben und nie vergessen, dass ich ein Jude bin, Gott möge mich immer beschützen! Das war die Botschaft meines Vaters, der ein Rabbiner und sehr frommer Jude war. Und meine Mutter sagte mir, ich soll gehen, weil ich soll leben. "Geh! Du sollst leben" waren ihre Worte zum Abschied. Und diese zwei Botschaften nahm ich mit. Wir kamen bis in den sowjetischen Teil Polens, ich wurde in ein Kinderheim der Komsomol gesteckt und verbrachte dort zwei Jahre und habe Russisch gelernt.

DIE FURCHE: Die Botschaft Ihres Vaters war auf Gott und den Glauben bezogen, während aus den Worten Ihrer Mutter eine Hoffnung spricht, die in der irdischen Einschätzung der Situation des Hier und Jetzt wurzelt.

Perel: Da sehe ich aber kein Widerspruch. Der Vater meinte, ich sollte den Glauben mitnehmen und Gott soll mich beschützen. Der Vater wollte, dass ich glaube, und die Mutter, dass ich lebe.

DIE FURCHE: Wie ging Ihre Flucht weiter?

Perel: Nach zwei Jahren im Kinderheim hat Deutschland 1941 die Sowjetunion überfallen. Wieder hieß das Flucht für mich, wieder Richtung Osten. Diese Flucht war die Hölle, unter Bomben und über Leichen und tote Pferde, aber so erreichten wir die Vorstadt von Minsk, das bereits von den Deutschen eingekesselt war. Alle Flüchtlinge wurden von der deutschen Wehrmacht gefangen und auf einem Feld aufgestellt. Juden wurden gruppenweise aussortiert. Der Befehl des Oberkommandos lautete: Juden und politische Kommissare der Roten Armee sind die Bazillen des Kommunismus und werden erschossen. Als ich das hörte, dass wir erschossen werden, hab' ich mich in der längsten Reihe ganz hinten angestellt, um Zeit zu gewinnen. Ich hoffte, es geschieht ein Wunder. Und so ging es Schritt um Schritt, und ich wusste, das war der Weg zum Ende. Mit jedem Schritt kam ich dem Ende näher. Sie können sich vorstellen, wie sich ein 16-jähriger Junge fühlte, der noch leben wollte, und ich hörte schon die Schüsse aus dem Wald, die Erschießungen. Der Verstand war weg, aber die Instinkte wirkten noch. An einem bestimmten Moment habe ich mit meinem Schuhabsatz ein Loch in die lockere Erde gegraben und alle meine Ausweise hineingeworfen. Und ich ging weiter, Schritt für Schritt. Und dann kam der Befehl, wo ich dachte, es ist sicher Zeit zum Sterben, "Hände hoch!" und ein deutscher Soldat stand vor mir und fragte mich "Bist du Jude?" und ich erinnerte mich an die Worte meines Vaters: "Bleib immer Jude". Mir war klar, wenn ich Ja sage, werde ich erschossen. In dieser Todesangst hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter: "Du sollst leben". Und es erschien mir, dass das Recht auf Leben das heiligste ist, alles andere ist nicht so wichtig. Das menschliche Leben verdrängt alle Gebote und Verbote der Religion. Und so sagte ich, ich bin kein Jude, ich bin ein Volksdeutscher.

DIE FURCHE: Und dann geschah ein Wunder ...

Perel: Alle Männer, die drankamen, mussten ihre Hose runterlassen, und es wurde geschaut, wer beschnitten war und wer nicht. Und mir hat er irgendwie geglaubt und statt mich zur Erschießung zu bringen, wurde ich sofort weggebracht als "Wolgadeutscher". Er hat nach meinen Papieren gefragt, und ich sagte, die sind durch einen deutschen Treffer vernichtet worden. Er fragte mich dann nach meinem Namen und ich wusste, ich kann nicht Salomon sagen, so sagte ich Josef. Jedenfalls wurde ich in Wehrmachtsuniform eingekleidet und wurde als Übersetzter für Deutsch-Russisch einer Kompanie zugeteilt. Ich war dann fast ein Jahr in der Wehrmacht als Übersetzer. Ich kam bis vor Moskau, dann kam der russische Winter. Alles blieb stehen, und es ging zurück Richtung Leningrad. Da ich noch minderjährig war, hat mein Kommandeur mich von der Front abgezogen. Er war ein hoher Offizier und wollte mich nach dem Sieg adoptieren, weil er kinderlos war. Er bewirkte, dass ich zurück nach Deutschland kam, in ein Eliteheim der Hitlerjugend in Braunschweig. Da blieb ich dreieinhalb Jahre unter falschem Namen und in einem Doppelleben. Einerseits wollte ich auf meine Seele als Jude nicht verzichten, anderseits musste ich mich dieser Hitlerjugend anpassen, und so geschah ein seelischer Prozess, sehr langsam, in dem ich vergaß, dass ich Jude bin und zu einem begeisterten Hitlerjungen wurde. Ich habe mich total mit dieser Ideologie identifiziert. Ich habe diese Rolle nicht mehr gespielt, das war nicht mehr möglich, es war echt. Ich feierte die Siege der Wehrmacht und trauerte über die Niederlagen. Und das ist die Geschichte meiner Geschichte.

DIE FURCHE: Wie passierte dieser Weg in eine neue Identität?

Perel: Das war ein Prozess. Ich habe diese Rolle nicht gespielt. Ein Schauspieler im Theater kann Fehler in seinen Texten machen, ich durfte ja keine Fehler machen. Die Schutzinstinkte, die ich erschaffen habe, haben mich dazu gebracht, wirklich an meine Lügen zu glauben.

DIE FURCHE: Jugendliche sind ja oft begeisterungsfähig für alles Paramilitärische. Hat diese Entwicklung auch damit zu tun?

Perel: Dreieinhalb Jahre hatte ich diese Gehirnwäsche. Die hatten uns auch alles zur Verfügung gestellt, alles, was die Jugend begeistert: Motorräder, Musik, Uniformen, Symbole, alles kostenlos. Auch mich hat das angefangen zu begeistern. Das war der Prozess, der im Mittelpunkt meiner Geschichte steht, denn so kam ich in keinen Verdacht. Ich wurde auch indoktriniert: Vaterlandsliebe, Heldentod für Deutschland und so weiter. Auch der Erfolg bei den Mädchen hat mir imponiert.

DIE FURCHE: Da gab es auch diese Episode mit dem Lehrer ...

Perel: Ja, er hat Rassenkunde unterrichtet und mich vor allen Schülern vermessen. Er hat festgestellt, dass ich Arier bin. Aber nicht der höchsten, der "Nordischen Rasse", sondern der "Baltischen Rasse". Kein Wunder, ich war ja klein und schwarzhaarig.

DIE FURCHE: Wie haben Sie das Kriegsende erlebt?

Perel: Ich habe getrauert, dass Deutschland verloren hat. Der Prozess zurück zum Judentum begann erst später, als ich den ersten Juden getroffen habe, der in Auschwitz war. Ich habe mit ihm gesprochen, und irgendwie habe ich mich als Jude erkannt. Das war der erste Push zurück zur wahren Identität. Aber vollendet ist es nicht, ich bin weiter in einem Doppelleben.

DIE FURCHE: Auch Österreich hat oft ein Problem mit einer doppelten Identität als Opfer und Täter in der Erinnerung. Was heißt Erinnerung für Sie?

Perel: Erinnern heißt Leben, wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, hat keinen festen Boden in der Gegenwart. Ausschwitz darf nicht vergessen werden, wo Menschen, Kinder zu Asche verbrannt wurden. Meine Geschichte ist nicht nur eine traumatische jüdische Geschichte, sie ist auch sehr problematisch, weil ich "Heil Hitler!" geschrien habe. Und ich habe überlebt und muss damit klar kommen. Die Juden waren Opfer und die Deutschen Täter, ich war beides. Als ich die Uniform angezogen habe, war ich mein eigener Feind. Ich musste mich selbst überwinden und dafür brauchte ich 40 Jahre, bis ich es in einem Buch niederschreiben konnte. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.

BUCH

Ich war Hitlerjunge Salomon

Von Sally Perel

Heyne 2012

240 S., kart., € 9,30

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